[Hildegard von Bingen folgt nicht strikt einer rationalen Logik, sondern schließt in ihren Visionen auch medizinische, psychologische und rechtliche Ratschläge ein]:
Weil eine reife Frau nicht einem kleinen Jungen, sondern einem reifen Mann gegeben wurde, nämlich Adam, so muß auch heutzutage eine reife Frau einen Mann heiraten, wenn er das volle Alter der Fruchtbarkeit erreicht hat, wie auch erst dann ein Baum beschnitten wird, wenn er Blüten entwickelt hat. Denn Eva war aus einer Rippe Adams, die aus seiner Hitze und Kraft bestand, geschaffen, und deswegen erhält heute eine Frau durch die Stärke und Hitze eines Mannes seinen Samen, um ein Kind auf die Welt zu bringen. Denn der Mann ist der Säer, und die Frau ist die Empfängerin des Samens. Die Frau untersteht der Gewalt des Ehemanns, weil die Kraft des Mannes im gleichen Verhältnis zur Empfänglichkeit der Frau steht wie die Härte eines Steines zur Weichheit der Erde.
Aber wenn entweder der Gatte oder die Gattin das Gesetz durch außerehelichen Geschlechtsverkehr brechen, müssen sie den gerechten Tadel des geistlichen Führers akzeptieren. Der Ehemann soll seine Frau und die Frau soll ihren Ehemann wegen der Sünde gegen ihre Vereinigung vor der Kirche und ihren Prälaten anklagen gemäß der göttlichen Gerechtigkeit, aber nicht so, daß der Ehemann oder die Ehefrau eine andere Ehe suchen können. Sie sollen entweder zusammen bleiben in rechter Vereinigung, oder sie sollen beide von solcher Vereinigung Abstand nehmen, wie die Ausübung der kirchlichen Praxis zeigt. Sie sollen sich nicht gegenseitig durch giftige Anklagen zerreißen, sondern sollen sich mit reiner Liebe lieben, da weder Mann noch Frau existieren können, ohne vorher in solch einer Verbindung geschöpft worden zu sein.
19. Ein Mann sollte erwachsen sein, bevor er heiratet, und nur eine Frau im heiratsfähigen Alter nehmen.
Wenn ein Mann das kraftvolle Alter erreicht hat, in dem seine Adern voll Blut sind, dann ist er mit seinem Samen fruchtbar; dann soll er durch eine gesetzmäßig eingerichtete Ehe eine Frau heiraten, die auch das Alter der inneren Hitze erreicht hat, so daß sie bescheiden seinen Samen empfangen und seine Kinder auf rechte Weise tragen kann.
20. Ungesetzliche und lustvolle Pollution.
Ein Mann soll seinen Samen nicht in exzessiver Lust vor den Jahren seiner Kraft verschwenden, denn er versucht, seinen Samen im Eifer der Lust zu säen, bevor sein Samen genug Hitze erworben hat, sich richtig zu koaggulieren. Dies ist Beweis dafür, daß er verführt vom Teufel sündigt. Wenn ein Mann bereits stark genug ist in seiner Lust, soll er seine Kraft nicht in dieser Tätigkeit so viel wie er kann ausüben, denn er richtet sich dabei nach dem Teufel, begeht ein teuflisches Werk und macht seinen Körper verächtlich, was vollkommen ungesetzlich ist. Statt dessen soll der Mann so handeln, wie die Natur ihn lehrt, d.h. er soll den richtigen Weg mit seiner Frau gehen, wenn er die Stärke seiner Hitze und die Kraft seines Samens besitzt; er soll dies mit menschlichem Wissen (eigenem Bewußtsein) machen, um Kinder zu bekommen.
Aber ich will nicht, daß dies während der Menstruation der Frau passiert, wenn sie schon durch den Blutfluß leidet, und damit das Öffnen des verborgenen Teils ihres Mutterleibes, damit nicht der Blutfluß die reifen Samen nach ihrem Empfang davonträgt und der Samen, so entfernt, zugrunde geht. Während dieser Zeit leidet die Frau Schmerzen und befindet sich in einem Gefängnis, weil sie einen kleinen Teil der Schmerzen wie bei der Geburt empfindet. Ich ignoriere nicht diese Schmerzenszeit für Frauen, weil ich sie Eva gab, als sie durch das Probieren der Frucht die Sünde auf sich nahm. Statt dessen sollte die Frau während dieser Zeit durch große und heilende Zärtlichkeit geehrt werden. Sie soll bei sich zu Hause bleiben in geheimem Wissen. Sie sollte aber nicht davon Abstand nehmen, in Meinen Tempel zu kommen, denn der Glaube erlaubt es ihr, in den Dienst der Demütigung für ihr Seelenheil zu treten....
Kloster Rupertusberg an der Nahemündung, Sepiazeichnung,
Ende des 19. Jahrhunderts
3. Vision. Das Universum und seine Symbolik.
Danach sah ich ein riesiges Objekt, rund in der Form und im Schatten, gestaltet wie ein Ei, schmal oben, breit in der Mitte und enger am unteren Ende. Um es herum brannte ein helles Feuer, und darunter war, wie es schien, ein schattiger Raum. In diesem Feuer war ein Ball von einer sprühenden Flamme, die so groß war, daß das ganze Objekt davon beleuchtet wurde. Darüber waren drei kleine Fackeln angebracht, so daß sie mit ihrem Feuer den Ball hochhielten. Von Zeit zu Zeit hob sich der Ball von selbst, worauf viel Feuer darauf zuflog und seine Flammen länger dauerten. Manchmal sank er nieder und verursachte damit eine große Kälte. Zugleich wurden dadurch seine Flammen schnell gedrückt. Aber vom Feuer, das das Objekt umgab, kam eine Hitzewelle angetrieben von einem Wirbelwind, und aus dem Raum darunter stieß eine weitere Welle hervor mit ihrem eigenen Wind, der sich nach allen Seiten hin im Objekt ausbreitete. In diesem Raum brannte ein dunkles Feuer von solch großem Schrecken, daß ich es nicht ansehen konnte, und dessen Kraft den ganzen Raum erschütterte mit Donner, Blitzen und äußerst scharfen kleinen und großen Steinen. Während man den Donner hörte, bewegten sich das helle Feuer, die Winde und die Luft, so daß Blitze vor diesen Donnerschlägen zu sehen waren, weil das Feuer in sich selbst die Erschütterung des Donners verspürte.
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Und ich sah zwischen Norden und Osten einen großen Berg, der zum Norden hin in tiefe Dunkelheit gehüllt war, und nach Osten hin ein starkes Licht besaß, aber so, daß das Licht die Dunkelheit nicht erreichen und die Dunkelheit nicht das Licht treffen konnte.
Und wieder hörte ich die Stimme vom Himmel, die zu mir sagte...