Dieses Büchlein, das nur sehr wenig Schmuck besitzt, habe ich mit großer Sorgfalt geschrieben Es soll allen Gelehrten freundlichst überreicht werden, d.h. aber nur denjenigen, die nicht gerne andere der Fehler bezichtigen, sondern lieber Irrtümer berichtigen. Ich muß gestehen, daß ich mich oftmals geirrt habe, als ich die Silben zählte, Ausdrücke suchte und auch sonst häufig . . . Doch wer seine Irrtümer gesteht, dem wird leicht verziehen und dem hilft man auch, seine Fehler zu korrigieren. . . So begann ich heimlich und wie eine Diebin, bald zu dichten, vernichtete aber die mißlungenen Werke und mühte mich sehr angestrengt, einen Text, sei er auch nur von kleinstem Nutzen, zu verfassen. Ich benutzte Darstellungen aus der Handschriften–Sammlung, die ich im Dachboden unseres Gandersheimer Stiftes vorfand. Zuerst wurde ich von der äußerst klugen Meisterin und zutiefst gütigen Leiterin Rikkardis, meiner Lehrerin, und von anderen an ihrer Stelle unterricht, die mein Wissen erheblich vermehrt haben. Zuletzt lehrte mich Gerberg, meine hochwürdige Beschützerin, die Äbtissin aus königlicher Familie, der ich jetzt untertan bin, die zwar jünger ist als ich an Jahren, doch weit mehr an Gelehrsamkeit besitzt, wie es für die Nichte des Kaiser angemessen ist. Sie hat mir freundlicherweise einige Autoren erklärt, über die sie selbst vorher hochweise Männer belehrt hatten.
Wie schwierig nun auch die Dichtungkunst sein mag für uns schwache Frauen, so habe ich doch, einzig gestützt auf das Mitleid der himmlischen Gnade, nicht aber auf eigene Kraft und Kühnheit, Gedichte in diesem kleinen Werk zusammengestellt und für sie das daktylische Versmaß gewählt. . . Daher Leser, wer du auch sein magst, wenn du rechtgläubig und von Gott Weisheit erhalten hast, dann sei mit diesen Seiten, die sich nicht auf die Kraft irgendwelcher Autorität früherer Werke oder die Klugheit der Gelehrten stützen, gnädig und nachsichtig. Erkenne in dem, was dir gefällt, Gottes Kraft, und in allem, was fehlerhaft ist, meine eigene Nachlässigkeit, doch sprich nicht von Schuld, sondern übe Geduld, da der Angrif von jeglichem Tadel von vornherein gemildert wird, sobald ein demütiges Bekenntnis ausgesprochen ist.
FRAGEN ZUM TEXT:
— Welches Selbstbewußtsein drückt Hrotsvitha als Dichterin aus?
— Was erfahren wir über die Lerngemeinschaft im Kloster? War es nur eine Stiftsschule, in der Hrotsvitha ihre Bildung erfuhr, oder gab es engere Beziehungen zwischen Schülerin und Lehrerin?
— Was berichtet sie über ihre Quellen? Welche Bedeutung besaßen diese für Hrotsvitha?
— Worum bittet die Dichterin bei ihrem Publikum?