This text was digitized and graciously donated to Sophie by Dr. Albrecht Classen, University of Arizona. This particular work has been extracted from Classen's Frauen in der deutschen Literaturtgeschichte; the full text is available on this site.
Text: aus dem Frühneuhochdeutschen übertragen.
I. Ihr Herren, macht Frieden, daß euch Gott alle gut behüte, so will ich euch von einer Erzählung berichten, die man in Frankreich im Kloster S. Dionysius in den Chroniken aufgezeichnet findet. Diese Geschichte geschah im Mai, als die Nachtigallen sangen und alles grünte. König Karl thronte zu jener Zeit in Paris in seinem Palast mit Salmon von Britannien und anderen Rittern und hielt einen offenen Hof und feierte das Pfingstfest, zu dem er seinen ganzen Hofstaat eingeladen hatte.
“Herr,” sagte die ganze Ritterschaft, “wir wollen unser Lehen empfangen, und es scheint uns an der Zeit zu sein, daß Ihr eine Ehefrau nehmt.”
Damit empfingen die Ritter ihr Lehen vom König Karl. Darauf schickte der König Karl einen Teil der besten Ritter, nämlich Gerhart von Ronßlon und seine Gesellen, zum Kaiser von Konstantinopel und warb dort um dessen Tochter. Die Herren ritten davon. Ich erzähle euch nichts von ihrer Reise, denn sie waren so lange unterwegs, bis sie nach Konstantinopel kamen. Sie suchten sich eine Herberge, legten ihre besten Kleider an und gingen zum Kaiser.
III. Als sie dort eintrafen, knieten sie nieder. “Herr,” sprach Gerhart von Ronßlon, “Gott, der alle Dinge geschaffen hat, möge den Kaiser und seine Ritter behüten. König Karl bittet euch durch mich, daß Ihr ihm eure Tochter in die heilige Ehe geben mögt. Er will sie zur Königin von Frankreich und all seinen Ländern machen.
Der Kaiser war über diese Botschaft froh und sprach:
“Liebe Freunde, dies will ich gerne tun, denn ich bin froh, daß der König meine Freundschaft von mir begehrt. Darum will ich ihm zu meiner Tochter noch eine große Mitgift geben.”
“Lieber Herr,” sprach Gerhart, “zeigt uns Eure Tochter.”
“Das will ich gerne machen,” sprach der Kaiser, “Ich glaube, daß Ihr in vierzehn Ländern keine Schönere finden werdet.”
IV. Die Tochter des Kaisers von Konstantinopel war weiß wie der Schneee und hatte einen herrlichen Körper und ebene Gliedmaßen, ohne daß man von ihrem Angesicht sprechen brauchte. Man konnte in keinem Land eine schönere Jungfrau finden.
“Ihr Herren,” sprach der Kaiser, “hier seht ihr meine Tochter. Habt ihr jemals einen schöneren Menschen gesehen?”
“Herr,” sprach Gerhart, “wir haben in unseren Ländern noch niemals solch ein Menschenkind gesehen. Lieber Herr,” sprach Gerhart,“gebt uns eure Tochter, wir wollen sie dem König Karl von Frankreich bringen und sie dort zur Königin machen.”
“Das will ich gerne tun,” sagte der Kaiser.
Gerhart von Ronßlon und seine Gesellen ritten etwa drei Wochen. Inzwischen bereitete der Kaiser seine Tochter vor und ritt danach mit ihr los.
V. Die Tochter des Kaisers saß auf einem weißen Maultier und war köstlich ausgestattet. Viele ihrer Zofen waren bei ihr. Der Kaiser ritt mit seiner Tochter und begleitete sie etwa vier Meilen weit. Dann verabschiedete er sich von seiner Tochter und sprach:
VI. Der König ritt mit großem Geleit seiner Braut entgegen und hieß sie freundlich willkommen. Die Kaiserstochter verneigte sich tugendhaft vor ihm. Große Freude breitete sich aus. Die Ritter führten ein Turnier vor den Damen auf. Einer stach auf den anderen mit großen Lanzen und Schwertern. Freudenvoll ritten sie in Paris ein, wo die Straßen herrlich geschmückt waren. Vier Herzöge und sieben Grafen führten die Königin zum Palast. Am anderen Tag geleitete der König die Königin in das Frauenmünster und krönte sie dort. Das Hoffest dauerte drei Wochen und verlief in großen Freuden. Danach ritten wieder alle nach Hause.
Einstmals war der König bei seinem Gefolge im Palast und unterhielt sich mit ihnen. In dem Augenblick tratt ein häßlicher Zwerg in den Palast, dessen Haut so schwarz war, als ob er zehn Jahre lang im Rauch gehangen hätte. Sein Gesicht war so breit wie ein Kissen, und seine Nase sah aus wie die eines Affen. Seine Haare standen zu Berge wie Schweinsborsten. Seine Ohren und seine Arme und sein ganzer Körper waren behaart. Seine Augen waren tief in sein Gesicht gesetzt und waren gelb. Er hatte auch hinten und vorne einen Buckel, und seine Beine waren krumm wie eine Sichel. Seine Füße waren groß und häßlich. Keinen abstoßenderen Menschen hätte man sich vorstellen können. Alle, die ihn ansahen, meinten, es sei der Teufel. Nachdem der Zwerg in den Palast getreten war, sprach er:
“Gott, der von einer reinen Magd geboren wurde, möge den König und die Königin und die gesamte Ritterschaft behüten.”
“Freund, du bist mir willkommen,” antwortete der König. “Ich bin froh, daß du zu mir gekommen bist. Sage mir sogleich, wie du heißt.”
“Herr,” sagte der Zwerg, “das will ich Euch sagen. Ich heiße Syweron.”
“Syweron,” sagte der König, “willst du bei mir bleiben, ich will es dir gut ergehen lassen.”
“Herr,” sagte der Zwerg, dafür danke ich Euch sehr und will gerne bei Euch bleiben.”
“Das ist ja kein Mensch, es ist der Teufel. Verflucht sei die Mutter, die ihn je getragen hat.”
Sie hatten recht. Er verursachte später großes Unglück, denn die Königin wurde danach aus dem Königreich vertrieben wegen des Zwerges. Der König hatte stets seine Freude mit seiner Frau, der Königin. Eines Tages ritt er zu Feld und wollte einen Hirschen jagen. Als die Königin hörte, daß der König aufs Feld geritten war, ging sie in ihre Kammer, um sich ins Bett zu legen und zu schlafen. Als die Jungfrauen merkten, daß ihre Herrin eingeschlafen war, schlichen sie alle aus der Kammer und gingen zu einem Brunnen, wo sie sich miteinander vergnügten. Sie ließen die Kammer weit offen stehen, ohne daß jemand dort blieb.
VII. In dem Augenblick kam der Zwerg in die Kammer und sah, daß die Königin in ihrem Bett lag und schlief. Der Zwerg sah hier hin und da hin, und bemerkte, daß niemand außer der Königin dort war. Da trat er vor die Königin und sah sie lange an; schließlich sagte er zu sich selbst:
“Ach Herr Gott im Himmelreich, wie selig wäre der Mann, der mit der Königin seinen Willen haben könnte, denn sie ist die Schönste, die es auf der Erde gibt. Wenn ich mit ihr machen könnte, wonach es mir verlangt, wollte ich statt dessen selbst nicht einmal Gott sein. Wenn sie mich nur einmal nackt in ihre Arme genommen hätte, würde ich zehn Jahre länger leben. Wolle Gott, der mich geschaffen hat, ich will sie, auch wenn ich deswegen sterben muß, aus großer Liebe dreimal küssen.
Damit trat der Zwerg zur Königin. Als er zu ihr kam, erwachte sie gerade. Sie sah hin und her und sah niemanden bei sich in der Kammer außer dem Zwerg.
“Zwerg,” sprach die Königin, “wie wagst du es, so kühn zu sein, daß du dich getraust, zu mir in meine Kammer zu kommen?”
VIII. “Liebe Herrin,” sprach der Zwerg weiter, “wenn Ihr mich nicht bei Euch schlafen laßt und mich nicht nackt in Eure Arme nehmt, so muß ich sterben.”
Als die Königin den Zwerg gehört hatte, begann all ihr Blut vor Zorn zu sieden. Sie hob ihre Faust und traf damit den Zwerg genau auf seinen Mund und schlug ihm drei Zähne aus. Darauf sprang sie aus dem Bett und wollte den Zwerg noch mehr schlagen. Er aber entlief ihr und schwor bei sich, weil die Königin ihn geschlagen hatte, wenn es ihm nur irgendwie möglich sein sollte, sich bei ihr zu rächen. Inzwischen kam der König mit seiner Ritterschaft von der Jagd, und sie waren alle fröhlich. Als sie in Paris einritten, begannen sie [auf ihren Hörnern] zu blasen, was anzeigte, was sie gefangen hatten. Der König hatte einen schönen Hirsch gefangen. Er ging zum Palast, wo die Tische schon gedeckt waren. Sie setzten sich nieder zum Essen. Der König sah nicht seinen Zwerg und fragte deswegen nach ihm. Seine Diener liefen sogleich und brachten ihn in den Palast. Als der Zwerg hinein kam, senkte er seinen Kopf und hielt die Hand vor den Mund.
“Wer hat dir etwas getan?,” fragte der König. “Wer hat dich geschlagen, wer hat dich getroffen?”
IX.“Zwerg,” sprach er, “sage mir, wer es getan hat, der soll dafür büßen.”
“Herr,” antwortete der Zwerg, “ich sollte die Treppe runtergehen, da wurde mir schwindlig und so bin ich gefallen.”
Der König antwortete darauf, daß ihm dies leid täte.
“Oh du ewiger Gott, wie erstaunlich ist es, daß mir mein Herz nicht bricht. Gott möge ihn verfluchen, der jemals Frauen traut, denn diese Frau hat mich betrogen.”
Der König ging aus seiner Kammer und rief alle seine Ritter zu sich und sprach:
“Ihr Herren kommt alle her und seht euch dieses Wunder an. Meine Ehefrau hat mich zu großen Schanden gebracht.”
X. Damit zog König Karl sein Schwert und ging in seine Kammer, begleitet von all seinen Rittern. Er hob die Decke auf und sagte:
“Ihr Herren, seht, wer hätte meiner Ehefrau das zugetraut, daß sie solch einen Teufel bei sich hätte liegen lassen.”
Als die Ritter das sahen, begannen sie alle, das Kreuz zu schlagen und sagten zueinander:
“Das ist unglaublich!”
Von dem Lärm erwachte die Königin und sah all die Ritter um sich herum in der Kammer stehen, was sie sehr erfreute. Sie setzte sich auf und wollte aufstehen. Da rief ihr der König zu:
Dennoch wußte die Königin nicht, daß der Zwerg bei ihr lag. Sie sagte:
“Herr, bei Gott, der alle Dinge geschaffen hat, ich habe noch niemals etwas gegen Euch getan und will es auch niemals tun, auch wenn ich deswegen sterben müßte.”
“Ihr habt es getan,” sprach der König, “leugnen könnt Ihr das nicht, denn der Zwerg hat in dieser Nacht seinen Willen mit Euch gehabt.”
Jetzt erst sah die Königin den Zwerg bei sich liegen. Da hob sie ihre Faust und schlug dem Zwerg ins Gesicht, so daß er aufwachte. Als der Zwerg wach war und den König vor sich stehen sah, sprang er sogleich auf und fiel vor ihm auf die Knie nieder.
“Lieber Herr, erbarmt Euch meiner und hört um Gottes Willen meine Worte an. Gott, der alle Dinge geschaffen hat, stehe mir bei, die Königin forderte mich auf, nachts zu ihr zu kommen, wenn Ihr zur Messe gingt, und befahl mir, mich neben sie zu legen. Lieber Herr, das fiel mir sehr schwer. Ich wagte es aber nicht, ihrem Befehl nicht zu folgen.”
XI. “Du stinkender Zwerg,” sprach der König, “du häßliche, ungestalte Kreatur, wie wagst du es, zu einer so schönen Person zu gehen. Dafür wirst du bezahlen müssen.”
“Herr,” sprach der Zwerg, Ihr müßt ein gerechter Richter sein. Es steht geschrieben, daß Gewalt kein Recht ist. Herr, ich wäre um keinen Preis zu ihr gekommen, aber die törichte Frau trug mich selbst in ihr Bett.”
“Herr,” sagte die Königin, “bei der Mutter, die unseren Erlöser trug, wenn Ihr zu dem Zeitpunkt, da ich ein Kind gebären werde, feststellt, daß es so ist, wie der Zwerg sagt, sollt Ihr mich verbrennen.”
“Frau,” sagte der König, “Ihr habt mich sehr betrübt. Noch nie gab es einen traurigeren Mann, als ich es jetzt bin. Ihr könnt die Sachlage nicht leugnen, denn alle meine Ritter haben es gesehen. Ich will Euch schleifen lassen und darnach in ein Feuer werfen.”
“Herr, um dessen willen, der für uns den Tod erlitt, habt Erbarmen mit mir unseligem Mensch, denn ich habe diese böse Tat nicht begangen, der Ihr mich anklagt. Auf den Tod, den ich leiden soll und muß, ich habe es nicht gewußt, daß der böse Schuft bei mir gelegen hat. Er hat sich ohne mein Wissen und Willen in dieses Bett gelegt. Edler König, bedenkt die Sache, ich würde eher sterben wollen, ehe ich die Geliebte von einem solchen Teufel werden wollte.”
“Frau,” sagte der König, “Ihr könnt viel reden, aber Ihr könnt die Tat nicht leugnen.”
Darauf befahl der König, daß vier Knechte die Königin weg aus der Kammer führen sollten. Dem Zwerg legte man sogleich ein Seil um seinen Hals.
“Ihr Herren,” sagte der König, “helft mir, diese Frau zu verurteilen wegen der großen Schande, die sie mir angetan hat.”
Da taten sich die bösen Leute zusammen. Es waren diejenigen, die auch den Herzog Herpin vertrieben hatten. Sie sagten zum König:
“Herr, Ihr sollt die Königin verbrennen lassen.”
Darauf ließ der König sogleich ein Feuer anzünden und die Frau dahin führen. Da begannen alle Ritter zu weinen, und auch die Bürger und Bürgerinnen und alle, die dabeistanden.
XII. Man führte die Königin zum Feuer, den Zwerg an ihrer Seite. Die Königin hatte keine Haube auf; ihre Haare hingen auf ihrem Rücken und sah aus wie Goldfäden. Sie ging barfuß. Ihr Hals war weißer, als es Milch jemals gewesen ist. Man könnte nirgends in der Welt jemanden ihresgleichen finden. Der Zwerg stand neben ihr wie ein Teufel bei einem Engel. Die Königin sprach zum König:
Darauf schaute die Königin nach Osten und sagte:
“Ach Konstantinopel, du reiche Stadt, wie bin ich so edel in dir erzogen worden. Ach mein Vater und meine Mutter, wie zart habt ihr mich erzogen. Ach Richard, du lieber Bruder, wüßtest du, daß ich mich in solcher Not befinde, es würde dich erbarmen. Ach Mutter Gottes, soll ich Arme so jämmerlich und schuldlos sterben. Ach Erdreich, öffne dich und verschlinge mich. Ach Herz, warum brichst du nicht, damit ich von dieser großen Marter und Schande, die mir so fälschlich und ohne Schuld angetan wird, frei käme.”
Da breitete man einen Teppich beim Feuer aus, auf den man die Königin führte, und zog sie bis auf ihr Unterhemd aus. Die Königin Sibilla sah auf der einen Seite eine große Menge Menschen stehen, die alle schrien, auf der anderen Seite das Feuer. Sie sagte:
“Ihr lieben Leute, wenn ich je etwas gegen euch getan habe, was meine Seele beschweren könnte, dann verzeiht mir das um Gottes willen, denn ich werde heute unschuldig getötet.”
Da begann das ganze Volk laut zu schreien und weinte heiße Tränen, doch fürchteten sich die Ritter so sehr vor König Karl, daß niemand es wagte, für die Königin zu bitten. Wie der König Karl sah, daß das ganze Volk so schrie, befahl er, sogleich die Königin ins Feuer zu werfen und sagte:
“Wenn ich sie ansehe, bricht mir das Herz in meinem Leib.”
Da nahmen sie die Königin, warfen sie auf ihren Rücken und banden ihre Hände und Füße.
Darauf begann die Königin, heiße Tränen zu weinen und zu klagen. Nun gingen Herzog Nimo von Bayern und Otger von Dänemark und Emmerich von Nerbonne und Bernhart von Brabant und einige von den zwölf Räten von Frankreich zur Beratung zusammen und entschlossen sich, für die Königin zu bitten. Sie fielen vor dem König auf ihre Knie und sprachen:
“Edler Kaiser von Frankreich, verbannt Eure Ehefrau für immer, daß sie niemals mehr in Euer Land kommt, denn sie ist hochschwanger mit einem Kind. Wenn Ihr das umbringt, könnt Ihr [dieses Verbrechen] mit all Euren Ländern gegen Gott nicht mehr entsühnen.”
“Auf meine Treue,” sprach der König, “ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich fühle in meinem Herzen solch eine Trauer, die ich niemals mehr werde überwinden können. Laßt den Zwerg wieder hierherholen, damit ich ihn besser befragen kann, wie es sich ereignet hat.”
Sie sagten:
“Herr, das wollen wir gerne tun.”
Darauf schickten sie nach dem Zwerg. Die Verräter, die geraten hatten, daß man die Königin verbrennen sollte, gingen zum Zwerg und sprachen zu ihm:
“Sage entschieden gegen die Königin aus, damit man sie verbrennt, dann wollen wir dir mit Gold und Silber davonhelfen, so daß dir nichts passiert.”
Sie brachten den Zwerg vor den König. Dieser sprach:
Sage mir und lüge nicht, wie du zu meiner Ehefrau gekommen bist.”
“Herr,” sagte der Zwerg, “ich will euch mit keinem Wort belügen, auch wenn ich deshalb sterben müßte, denn Ihr seid mein wahrer Herr, weswegen ich Euch die Wahrheit sagen muß: Sie sprach eines Nachts zu mir, daß ich am Morgen zu ihr kommen sollte, wenn Ihr in die Kirche geht. Herr, das fiel mir schwer in meinem Herzen. Sie hob mich selber auf das Bett. Herr, ich bin ein langsamer, schwacher Mensch und konnte mich nicht gegen sie wehren.”
Sogleich ergriff man den Zwerg und warf ihn ins Feuer, und es mag wohl sein, daß der Teufel seine Seele in die Hölle entführte.
“Ihr Herren,” sprach der König, veranlaßt, daß man meiner Ehefrau die Hände und Füße wieder aufbindet, laßt sie die besten Kleider anziehen, die sie nur hat, denn ich kann ihr um nichts in aller Welt ein Leid antun.”
Als die Fürsten das hörten, dankten sie sehr dem König.
XIII. “Frau,” sprach der König, “Ihr habt mir eine große Schande angetan, wie es noch keinem Mann passiert ist. Auch wenn Ihr meinen Vater vergiftet hättet, könnte ich Euch jetzt doch kein Leid antun. Doch achtet darauf, daß ich Euch morgen hier nicht finde. Denn wenn ich Euch nach dem heutigen Tage hier vorfinde, dann wird Euch der waltende Gott nicht bewahren können.
“Herr,” sprach die Königin, “wohin soll ich arme unglückliche Frau hin, ich weiß nicht, wohin ich mich begeben soll. Mir geschieht Unrecht, daß ich unter so großem Verlust von hier weggehen muß. Es wurde noch niemals ein unglücklicherer Mensch als ich geboren.”
“Frau,” sagte der König, “Ihr müßt aus meinem Königreich verschwinden. Möge Gott euch gut dorthin leiten, wohin er will und soll Euch auch so lohnen für das, was Ihr begangen habt.”
Die Königin sah um sich und erblickte einen tüchtigen tugendhaften Ritter namens Abrye von Mondidire. Sie bat den König, daß sie Abrye mit ihr reiten ließ.
“Abrye,” sagte der König, “reitet mit der Königin durch die Lande in Richtung Rom, damit sie zum Papst kommt und ihm ihre große Sünde beichten kann, die sie begangen hat. Sobald Ihr sie durch den Wald geführt habt, kommt wieder zurück und laßt sie reiten, wohin sie will.”
“Herr,” sprach der Ritter Abrye, “ich tue, was Ihr mir befehlt.”
XIV. Die Königin entfernte sich voller Betrübnis und segnete alle. Sie und Abrye ritten zusammen fort. Die Königin bat Gott und seine liebe Mutter, daß er sie gut behüten möge. Sie ritten so lange beisammen, bis sie in einen Wald kamen. Als sie eine Weile durch den Wald geritten waren, sahen sie einen sehr lieblichen Brunnen. Die Königin war müde, und Abrye hob sie bei dem Brunnen vom Pferd.
“Liebe Herrin,” sprach Abrye, “tröstet euch, denn Gott und seine liebe Mutter werden Euch gut helfen, denn wer Gott fest traut, den verläßt er nicht.”
“Abrye,” sagte die Königin, “wenn Ihr nun von mir wegreitet, wohin soll ich arme Frau mich dann wenden?”
“Liebe Herrin,” sagte Abrye, “Gott wird euch wohl helfen.”
Abrye überredete die Königin mit guten Worten, daß sie etwas aß und weichte Brot im Brunnen ein und gab auch seinem Hund etwas zu essen.
“Abrye, heb die Königin sofort auf, denn der König hat viele Bösewichter hinter ihr her geschickt, die ihr große Schande antun sollen. Deshalb bin ich hierher geeilt, damit ich ihr und dir helfen kann.”
Abrye glaubte, daß dies wahr sei, hob die Königin sogleich auf ihr Pferd und wollte ebenfalls aufsitzen, als Mayrkar ihm zurief:
“Abrye, laß mir die Königin. Ich will meinen Willen mit ihr haben.”
Als Abrye dies hörte, wurde er sehr betrübt und die Königin vergoß heiße Tränen. Abrye rief aus ganzem Herzen Gott im Himmel an, daß er ihn und die Königin behüten möge. Er sah Mayrkar an, daß er gut gerüstet war.
“Mayrkar,” sprach Abrye, was steht dir im Sinn, sag mir das!”
Dieser antwortete:
“Du sollt mir selbst die Königin geben, oder du mußt sterben.”
“Bei Gott, das darf nicht sein,” sagte Abrye.
“Abrye,” sprach die Königin, “erbarmet euch meiner und helft mir, meine Ehre vor dem Verräter zu bewahren, denn ich will lieber sterben als übel zu handeln.”
XVI. Wie der Schalk die Königin hörte, wurde er sehr zornig, zückte sogleich sein Schwert und rannte den Ritter Abrye an. Abrye zog ebenfalls sein Schwert, aber er war nicht gewappnet. Mayrkar traf ihn in einer Schulter, so daß Blut auf die Erde rann. Als die Königin das sah, rief sie:
“Mutter Gottes, erbarme dich meiner und behüte mich und meine Ehre.”
Die Königin ritt immer weiter und war ganz von Sorge erfüllt, daß Mayrkar immer noch ihr nacheilte. Sie rief Gott und seine liebe Mutter an und bat ihn, sie zu behüten. Diese Bitte wurde erfüllt, denn sie blieb sicher. Sie ritt die ganze Nacht im Wald und kam am Morgen wieder heraus.
XVII. Als die Königin aus dem Wald kam, begann sie zu weinen und sprach:
“Wohin soll ich arme Frau nun? Wie bin ich so unschuldig in Nachrede gelangt. Verflucht sei die Stunde, daß der falsche Zwerg je an den Hof kam.”
Dies geschah zu Ostern. Da begegnete ihr ein großer grober Mensch, dessen eines Auge ganz weiß und das andere ganz schwarz war. Er trieb einen Esel vor sich hin, auf dem er Holz aus dem Wald holen wollte. Der Mann hob seinen Kopf und sah die Königin. Er sagte:
“Nun sei Gott gelobt, hier bin ich auf ein Abenteuer gestoßen, an dem ich mich vergnügen werde.”
“Lieber Freund, ich bitte dich, sage mir, wohin willst du das Holz bringen?”
“Herrin,” sagte der Mann, der Teufel hat Euch so früh hierher gebracht. Ihr seid so hübsch, daß Ihr glücklich sein müßtet. Wo sind Eure Begleiter, die mit Euch durch die Welt reiten? Es tut mir gewiß leid, daß Ihr traurig seid, dafür seid Ihr viel zu schön, denn ich sah noch nie eine schönere Frau außer der Königin von Frankreich, die der König vor kurzem hat verbrennen lassen. Gott möge ihn verfluchen, denn man könnte auf der Erde keinen schlimmeren König finden. Wenn jemand mit Euch ritte, so glaubte ich, daß Ihr die Königin von Frankreich seid.”
“Es ist doch wahr, daß mich der König verbrennen wollte, und Gott weiß gut die Wahrheit, daß mir großes Unrecht geschah. Aber seine Fürsten und Ritter haben für mich gebeten. Mein Herr, der König, befahl Abrye von Mondydire, einem Ritter, daß er mit mir reiten sollte. Aber der Verräter Mayrkar eilte mir nach und hat mir meinen Begleiter erschlagen. Während er ihn erschlug, bin ich ihm davongeritten und ich weiß jetzt nicht, wohin ich soll. Dazu bin ich hochschwanger. Guter Freund, gebt mir Euren besten Rat, nehmt dafür mein Pferd und alle meine Kleider, verfügt über sie.”
“Herrin,” sprach der Bauer, Ihr sollt nicht mehr allein reiten, denn ich will meine Frau und Kinder allein lassen und will mit Euch nach Konstantinopel, um Euren Vater Richard aufzusuchen. Bei dem wollen wir über den König von Frankreich klagen, daß er Euch so in Schande gebracht hat. Verflucht sei Euer Vater, wenn er sich nicht an ihm räche. Und wenn Ihr mit Gottes Hilfe ein Kind gebärt, so braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen, ich will Euch genug beistehen, auf daß Ihr keinen Mangel leidet.”
“Gott gebe Euch Lohn,” sprach die Königin. “Lieber Freund, wie heißt Ihr?”
Er antwortete:
“Herrin, ich heiße Warakir.”
Warakir sagte: “Ich will Euch zu einem guten Ziel bringen.”
Damit belud Warakir seinen Esel mit Holz. Der Esel ging nach Hause, denn er kannte den Weg gut. Als Warakirs Ehefrau den Esel ohne ihren Mann kommen sah, zitterte ihr Herz und sie dachte sogleich, daß Warakir tot wäre, oder daß die Waldfürsten ihn gefangen hätten. Da begannen sie und ihre Kinder zu weinen.
Warakir und die Königin wanderten gemeinsam so lange, bis sie in die Stadt Langers kamen. Sie ritten zum Markt und sahen dort viele Bürger.
XVIII. “Bauer,” sprachen die Bürger, “wohin führst du die schöne Frau?”
Warakir schwieg und ging weiter. Die Bürger riefen ihm erneut nach und fragten:
“Hörst du nicht, du böser Bauer? Wohin willst du mit der Frau?”
“Ihr Herren,” sprach die Königin, “ihr schimpft zu Unrecht mit dem Mann, denn er ist mein Ehemann.”
“Herrin,” sagten die Bürger, “dann hat ihn euch der Teufel gebracht, daß er eine so schöne Frau gewinnen konnte.”
Warakir blieb ganz still und ging so lange, bis er zu einer Gaststätte kam. Die Königin sprach zum Wirt:
“Lieber Wirt, gebt mir um Gottes Willen Herberge.”
Der Wirt: “Liebe Frau, ich sehe gut, daß Ihr sehr geweint habt. Ich will Euch gerne sogleich Unterkunft geben und will von Euch nichts dafür nehmen, denn Ihr tut mir sehr leid.”
Dafür dankte sie ihm sehr. Der Wirt brachte der Königin und Warakir genug zu essen. Nachdem sie gegessen und getrunken hatten, ging der Wirt zu Warakir und fragte:
“Lieber Freund, sage mir, ist diese Frau deine Gemahlin?”
“Lieber Freund,” sagte der Wirt, “möge euch Gott helfen.”
Der Wirt bereitete der Königin das Bett. Sie legte sich gleich nieder, denn sie war sehr müde. Als es Morgen wurde, sagte die Königin, “Warakir,” wir können es nicht wagen, hier zu bleiben, denn wenn der König herausfindet, daß ich hier bin, bringt er mich zu großen Schanden.”
“Herrin,” antwortete Warakir, “seid ganz ruhig. Käme der König hierher und sollte ich deswegen aufgehängt werden, wollte ich ihn erstechen.”
“Lieber Warakir,” sagte die Königin, “ich bin hochschwanger und habe nur noch zwei Monate. Deswegen verkaufe das Maulpferd und meine Kleider, damit wir Zehrung haben. Denn ich will keine guten Kleider mehr tragen, bis ich wieder nach Konstantinopel zu meinem Vater und meiner Mutter gekommen bin. Könnten wir uns beeilen, dorthin zu gelangen, ehe mir Gott zu einer Geburt verhilft?”
“Das soll mir recht sein,” sagte Warakir.
Damit verkaufte er, was sie besaß. Sie verabschiedeten sich vom Wirt und machten sich auf den Weg. Von ihren Tagereisen berichte ich euch nicht viel, denn sie gingen so lange, bis sie nach Köln kamen. Dort ruhten sie gute drei Tage. Dann gingen sie über den Rhein und erkundigten sich nach dem Weg nach Ungarn. Damit wende ich mich von der Königin und Warakir ab, die bis nach Konstantinopel gingen, und berichte euch vom König von Frankreich.
XIX. Der König saß einstmals mit vielen seiner Herren und Ritter zu Tisch. Er blickte hin und her und sah Abrye von Mondidire nicht. Darauf sagte er zu seinen Dienern:
“Ist Abrye von Mondidire wiedergekommen, den ich mit meiner Ehefrau losgeschickt habe? Wenn ja, dann laßt ihn herholen.”
Als Mayrkar das hörte, sprang er auf und sprach:
“Ich habe gehört, Abrye sei mit Eurer Ehefrau in fremde Länder geritten und habe seinen Willen an ihr erfüllt.”
“Ja, Herr, auf meinen christlichen Glauben. Ihr werdet Abrye nie mehr an Eurem Hof sehen.”
Über diese Nachricht wurde der König sehr zornig und schwor beim allmächtigen Gott, wenn er des Abrye habhaft werden könne, wollte er ihn ganz schmächlich töten lassen. Leider aber lag Abrye tot bei dem Brunnen, und sein Hund lag bei ihm und hatte schon vier Tage gefastet. Da stand der Hund wegen seines großen Hungers auf und bedeckte seinen Herrn mit Laub und Erde, damit ihn kein wildes Tier fressen könne. Darauf lief der Hund nach Paris und kam eben in den Saal des Königs, als dieser zu Tisch saß und sich nach Abrye erkundigte und von Mayrkar die Auskunft erhielt.
XX. Als der Hund Mayrkar erblickte, sprang er über den Tisch auf ihn und warf dabei alles runter, was auf dem Tisch stand. Er ergriff Mayrkar an der rechten Achsel und biß dort hinein, daß er stark blutete. Mayrkar schrie laut auf, während die Diener mit Stöcken nach dem Hund warfen. Der Hund ergriff ein Brot und lief wieder weg zu seinem Herrn im Wald.
“Ihr Herren,” sprach der König, ist das nicht der weiße Windhund, den Abrye immer bei sich hatte? Das war ein Fehler, daß wir ihn nicht festhielten, als er Mayrkar gebissen hat.”
Der König war traurig darüber, daß Mayrkar so gebissen war.
“Lieber Herr,” sprach Nimo von Bayern, um Mayrkar ist es nicht schade. Verhaltet Euch nicht so. Unkraut verdirbt nicht. Man muß Unkraut auf lange Zeit jäten, bevor man es vertilgen kann.
Als Mayrkar das hörte, meinte er, gleich wahnsinnig zu werden. Der König ließ für ihn einen Arzt holen. Mayrkar wurde wieder gesund und kehrte zum König zurück.
“Mayrkar,” sprach der König, “seid Ihr wieder gesund?”
“Ja, Herr,” antwortete Mayrkar.
Während sie miteinander redeten, kam der Windhund erneut nach Paris und ging über den Markt. Die Bürger sagten zueinander:
“Das ist Abryes Windhund. Wo mag er herkommen?”
“Ihr Herren, erschlagt nicht den Windhund, das befehle ich euch im Namen König Karls.”
“Herr Nimo,” sagten Mayrkars Freunde, “wir wissen nicht, was unsere Schuld gegen Euch ist, denn wir sehen wohl, daß Ihr uns auf alle Weisen unterdrücken wollt. Der Hund ist tollwütig, das sah man doch, als er unseren Vetter Mayrkar in die Achsel biß. Ein normaler Hund macht so etwas nicht.”
“Wer weiß,” antwortete der Herzog Nimo, “ob nicht der Hund einen alten oder einen neuen Haß auf Euren Vetter hat.”
Als der Hund sah, daß Nimo ihn schützen wollte, lief er sogleich zu ihm. Nimo streichelte den Hund und übergab ihn einem Mann namens Gaufra, der sich gut um ihn kümmern mußte. Der Gaufra war der Vater von Otger von Dänemark. Als Mayrkar das sah, wurde er sehr zornig. Nimo rief Richard von Normandie und Otger von Dänemark und auch Otgers Vater und dazu Sasomon von Britannien und viele andere gute Fürsten herbei. Sie gingen gemeinsam hin und knieten vor dem König nieder. Nimo hielt den Windhund an der Hand und sagte zum König:
“Herr, wir waren früher die Vertrautesten im Rat und dazu in allen Sachen, die Ihr zu tun hattet.
XXI. Nun scheint es uns aber, daß Ihr an Eurem Hof Verräter habt, die immer mehr werden. Wir warten auf den Tag, an dem Ihr diese Verräter vertreibt, und wir sagen Euch, hütet Euch, denn dies ist für Euch notwendig.”
“Nimo,” sagte König Karl, “ich kann mich nicht selbst schützen, wenn Gott mich nicht schützen will.”
“Nimo,” sagte der König, “Ihr redet weislich. Ich will hinausreiten und sehen, wohin mich der Hund führt.”
Der Hund sprang am König hoch und begann laut zu heulen, als ob er gerne zu ihm geredet hätte. Der König setzte sich auf sein Pferd und mit ihm alle Ritter. Aber der Bösewicht Mayrkar hörte von dieser Unterredung und blieb zu Hause und war sehr besorgt und drohte, er wolle Herzog Nimo töten.
XXII. So ritt König Karl los und der Windhund lief dauernd voran, bis sie in den Wald kamen, und dann sogleich zu seinem Herrn. Dort legte sich der Hund neben seinen Herrn nieder und begann sehr laut zu heulen. Als der König das sah, wischte er das Laub und die Erde beiseite. Da entdeckten sie den toten Abrye. Der König weinte heftig und sprach zu seinen Rittern:
Zunächst ließ der König den Leichnams Abryes in die Stadt Paris tragen. Der Hund lief voraus und heulte unablässig, wodurch alle Menschen, die zugegen waren, zu Tränen gerührt wurden. Als der Leichnam nach Paris kam, fingen alle Männer und Frauen zu weinen an, denn sie hatten Abrye sehr lieb gehabt. Der Körper wurde schließlich im Frauenmünster bestattet. Nimo befahl, daß man den Hund behielt und ihm genug zu fressen und trinken gäbe. Aber der Hund war so übel dran, daß er weder fressen noch trinken konnte. König Karl ließ Mayrkar ins Gefängnis werfen. Darauf ging Karl schlafen und verbrachte so die Zeit bis zum nächsten Morgen. Nachdem er gegessen und die Messe gehört hatte, sprach er zu seiner Ritterschaft:
“Ihr Herren, überlegt euch nun, welches Urteil ihr wegen des Todes von Abrye von Mondidire aussprechen wollt, dem ich die Königin anvertraut hatte, der aber gestorben ist. Ich weiß nicht, wo die Königin ist. Deshalb ließ ich Mayrkar wegen des Hundes gefangen nehmen, denn dieser hat ihn nicht ohne Grund gebissen, während er sonst niemandem etwas getan hat.”
“Herr,” sprach Herzog Nimo, “wir wollen uns darüber beraten.”
Darauf berief Herzog Nimo die zwölf Räte von Frankreich zusamen, und sie zogen sich zurück. Gallerant von Biacair begann als erster zu sprechen, denn er war ein Verwandter von Mayrkar und schätze ihn auch sehr:
XXIII. Nachdem die anderen elf die Rede Gallerants angehört hatten, war niemand unter ihnen, der gewagt hätte, ein Wort dagegen zu sagen, denn Gallerant und Mayrkar gehörten einem großen und adeligen Geschlecht an. Nimo stand auf und sprach:
“Nun seid alle still. Ich will Gallerant antworten. Gallerant,” sagte Herzog Nimo, “Ihr sagt, daß dies Euch der beste Rat zu sein scheint. Mir kommt es aber vor, daß wir einen anderen Rat in dieser Sache finden müssen. Als der König seine Ehefrau vertrieb, vertraute er sie, die Gott behüten möge, Abrye an. Nun ist Abrye ermordet worden. Derjenige, der den Mord beging, hat dem König eine große Schande angetan. Als Abrye die Königin wegführte, da sahen wir alle nur zu gut, daß er von seinem Windhund begleitet wurde, den er sehr lieb hatte. Laut Merlin besitzt ein Hund eine große Treue.
XXIV. Ich will euch etwas erzählen. Es war einmal ein König, der hatte Merlin gefangen und hatte ihn in einen Turm gesteckt um herauszufinden, ob Merlin wirklich so weise wäre, wie man von ihm sagte.
‘Merlin,’ sagte der König, ‘du sollst mir treulich geloben, daß du mir dein Liebstes und deinen größten Freund und deinen größten Feind bringst.’
‘Herr,’ sagte Merlin, ‘das will ich tun.’
Darauf ging Merlin nach Hause und holte seine Frau, seine Kinder und seinen Hund. Als Merlin wiederkam, trat er vor den König und sprach:
XXV. Ihr Herren,” sagte Herzog Nimo, “dieses Beispiel habe ich euch erzählt um Abryes und seines Hundes willen. Nach meiner Einsicht will ich dann auch so urteilen: während Abrye niemand hier besaß außer dem Hund, der für ihn zu kämpfen bereit wäre, so soll Mayrkar zu Fuß stehen und nicht im Kampf auf dem Pferd sitzen. In seiner Hand soll er einen Stab von eineinhalb Fuß Länge halten und damit gegen den Hund kämpfen. Er soll auch einen Schild halten, und wenn er den Hund überwindet, dann wird das sein Vorteil sein, denn er wird dadurch freigesetzt. Besiegt ihn aber der Windhund durch Gottes Hilfe, dann fälle ich das folgende Urteil nach meinem Gutdünken, daß Mayrkar den Mord begangen hat. Dieses Urteil gebe ich hiermit kund und weiß nichts Besseres. Will aber jemand von euch etwas dazu sagen, dann möge er das gerne tun.”
Da standen allesamt auf und sagten:
“Herzog Nimo, Ihr seid ein weiser Mann. Wir wollen geschlossen Eurem Rat folgen.”
“Weiß Gott,” antwortete Nimo, “wenn Mayrkar den Mord begangen hat, so wird Gott mit dem Windhund ein Wunder im Kampf zeigen.”
Dann standen alle auf, gingen zum König und teilten ihm ihren Entschluß mit. Der König antwortete:
“Die Entscheidung gefällt mir gut, denn sie scheint mir für beide Seiten gleich zu sein.”
Sogleich ließ man Mayrkar frei und führte ihn zum König. Herzog Nimo sagte ihm, welchen Entschluß sie gefaßt hatten, worüber Mayrkar sehr froh war und dankte dem König sehr. Er glaubte, durch solch einen Kampf der Mordanklage ledig zu werden, wie ihr gleich hören werdet.
“Mayrkar,” sagte der König, “wenn dich der Hund besiegt, wirst du aufgehängt.”
XXVI. “Herr,” sagte Mayrkar, “es ist eine große Schande, daß ich gegen einen Hund kämpfen muß.”
“So muß es sein,” antwortete der König, “denn ich habe mit meinen Worten das Urteil gefällt. Nun geh schnell und bereite dich darauf vor, daß du den Kampf beginnen kannst.”
Mayrkar entfernte sich mit seinen Freunden, die ihm einen Schild in seine Hand drückten, dazu einen Stab von eineinhalb Fuß Länge. Mayrkars Freunde sagten zu ihm:
“Guter Freund, fürchte dich nicht, wenn der Hund zu dir kommt, gib ihm einen Schlag auf seinen Kopf, daß er tot liegen bleibt. Wenn dann noch jemand etwas gegen dich sagen will, wird doch unser Verwandter Gallerant dir dagegen helfen.”
“Mayrkar,” sagten die Verräter, “wenn Ihr den Kampf beendet habt, wollen wir uns daran machen und den König vergiften, dazu auch Nimo von Bayern, denn er mischt sich ständig in unsere Angelegenheiten. Wir wollen dann endlich den Tod unseres Verwandten Gannolons rächen. Die Königin ist fort, aber sie ist hochschwanger. Sie mag einen Sohn gebären, der später in dieses Land kommen könnte. Diesen wollen wir auch vergiften. Darauf werden wir unseren Vetter Mayrkar zum König machen, wodurch unser Geschlecht erhöht werden wird. Dann werden wir eine so vornehme Familie sein, daß niemand es wagen wird, etwas gegen uns zu unternehmen.”
So sprachen die Verräter untereinander. Aber noch bevor es Nacht wurde, wünschte sich Herr Mayrkar, daß er weit weg überm Meer gewesen wäre. Der König rief ihn und sprach:
“Mayrkar, nun stelle Bürgen dafür, daß du diesen Kampf durchführen wirst.”
“Mayrkar,” sagte der König, “küsse die Reliquie, auf daß dir Gott zu deinem Recht verhelfen möge.”
“Herr,” sprach Mayrkar, “ich küsse die Reliquie täglich, und will deswegen Gott nicht darum bitten, mir gegen einen Hund zu helfen.”
Bei diesen Worten begann das ganze Volk sich zu segnen und baten allesamt Gott, daß, wenn Mayrkar den Abrye getötet haben sollte, er ein Wunder bewirken möge und dem Hund helfen solle, Mayrkar zu überwinden. Mayrkar rief mit lauter Stimme:
“Laßt den Hund herkommen. Wenn ich ihn nicht mit dem ersten Schlag töte, dann dürft ihr mich verachten.”
“Windhund,” sprach Gaufra Otgers Vater, “du kämpfst jetzt für deinen Herrn. Wenn Mayrkar den Mord begangen hat, so möge dir Gott dabei helfen, ihn zu besiegen.”
XXVII. Gaufra ließ den Hund frei. Dieser sah überall umher, sah das viele Volk, aber sobald er Mayrkar erblickte, erkannte er ihn sofort wieder. Ehe Mayrkar seinen Stab ergriffen und seinen Schild vor sich genommen hatte, war der Hund auf ihn gesprungen und hatte ihm aus der Brust ein großes Stück Fleisch rausgerissen. Darüber wurde Mayrkar sehr zornig und schlug dem Hund auf den Kopf, daß er hinfiel und sehr blutete. Der Hund sprang wieder auf seine Füße.
“Oh, all ihr meine Verwandten und Freunde, wo seid ihr jetzt. Kommt mir zur Hilfe, denn der Hund wird mich gleich töten.”
Da kamen seine Freunde und wollten den Hund erschlagen. Als König Karl dies sah, rief er:
“Bei Gott, der alle Dinge geschaffen hat, möge keiner so kühn sein und in den Kreis treten, denn er wird dann aufgehängt.”
Als die Verräter den König hörten, setzten sie sich alle nieder. Mayrkar saß auf der Erde und klagte jämmerlich, faßte aber wieder Mut und lief auf den Windhund zu, um ihn zu schlagen. Da machte sich der Windhund auf und biß ihm in die Hand, mit der er den Stab hielt, und hielt ihn so fest, daß er den Stab fallen ließ. Da schrie und kreischte Mayrkar und schlug mit der anderen Faust hart auf den Hund. Gallerant rief etwa 100 Leute von seinem Geschlecht zusammen und sagte:
“Ihr guten Freunde, jetzt seht ihr wohl, daß der Hund unseren guten Mayrkar überwinden wird. Dadurch wird unsere Familie für den Rest unserer Tage geschmäht. Deswegen will ich mich lieber wappnen und mit meiner Lanze zu ihm in den Kreis reiten, ob es ihnen nun recht oder nicht recht sei, und will den Hund erstechen. Dann wird mich der König sogleich fangen lassen, aber ihr sollt dem König viele Güter für mich bieten, denn der König liebt das Geld, und wenn er eure Gelübde hört, so wird er mir nichts antun. Wenn dann der Windhund tot ist, so ist auch Mayrkar erlöst. So kommen wir gemeinsam frei.”
Sie sagten:
“Freund, Ihr redet gut. Wir wollen gerne machen, was Ihr uns gebietet.”
“Ihr Herren, wenn ihr diesen Bösewicht aus dem Kreis freilaßt, so will ich euch alle aufhängen, aber wer mir den Schurken Gallerant fängt, dem will ich hundert Mark Silber zu Lohn geben.
Da warfen die Jungen mit Messern und Steinen, denn sie hatten alle gut gehört, was der König gesagt hatte. Als Gallerant dies bemerkte, wendete er sein Pferd und wollte fliehen, es standen aber so viele Leute um ihn, daß er nicht raus konnte.
XXX. Darauf näherte sich ein großer Bauer und schlug Gallerant mit einer schweren Keule, so daß er von seinem Pferd fiel, fing ihn auf und übergab ihn dem König. Der Bauer erhielt sofort die hundert Mark Silber. Die Freunde Gallerants gingen aber zum König und sagten:
“Gnädiger Herr, tötet nicht unseren Verwandten. Daß er seinem Vetter helfen wollte, darf man ihm doch nicht verdenken. Für das, was er gegen Euch getan hat, wollen wir Euch viel Geld geben.”
“Auf meine Treue,” sprach der König, “ich nehme nicht einen Wagen voll Gold für ihn.”
Der König ließ Gallerant wegführen und in ein Gefängnis stecken. Darauf entfernten sich alle aus dem Kreis. Nimo nahm den Windhund und sprach zu ihm:
“Tier, Gott wollte dir heute helfen, daß du für deinen Herrn kämpfst.”
Darauf sprang der Windhund erneut in den Kreis, schaute hier hin und da hin, bis er Mayrkar erblickte. Dieser bekam große Angst und warf seinen Stab nach ihm, verfehlte ihn aber und traf ihn nicht. Der Windhund sprang an Mayrkars Hals und zog ihn auf die Erde nieder. Als Mayrkar merkte, daß seine große Bosheit bestraft werden sollte und er nicht reden konnte, winkte er den ihn umstehenden Leuten zu, damit sie zu ihm kämen. König Karl ging selbst zu ihm, und dazu seine Fürsten, Herren und auch die ganze Ritterschaft und zogen den Hund weg von ihm, sonst hätte er ihn erwürgt.
“Hört,” sagte König Karl zu Nimo von Bayern, “was uns der Verräter sagt. Ach edle Königin,” sagte König Karl, “ich fürchte sehr, daß ihr durch Verrat vertrieben worden seid.”
Der König ließ Gallerant und Mayrkar zusammen binden und zum Galgen schleifen, wo sie beide aufgehängt wurden. Um seines Herrn willen ließ Karl den Hund gut pflegen. Aber der Windhund ging zum Grab seines Herrn und heulte und jaulte so lange, bis er auch starb. Der König befahl, daß man den Windhund nahe beim Friedhof begraben solle. Damit laß ich den König zurück und erzähle euch von der Königin, die sich zusammen mit Wararkir auf dem Weg nach Konstantinopel befand. Sie gingen so lange, bis sie in eine Stadt namens Gryman kamen. Dort nahmen im Haus eines reichen Bürgers Herberge. Dieser hatte eine ehrbare Hausfrau. Die Königin war müde und legte sich nieder. Kaum lag sie im Bett, begannen die Wehen und sie rief:
“Mutter Gottes, komm mir zu Hilfe.”
Sie schrie so lange, bis die Wirtin sie hörte. Diese rief andere Frauen zusammen und eilten der Königin zu Hilfe, und Gott ließ sie einen Sohn gebären. Die Frauen wickelten das Kind in weiße Tücher und brachten es Warakir. Auf der Schulter des Kindes stand ein rotes Kreuz.
“Ewiger Gott,” sagte Warakir, “mögest du das Kind behüten und ihm wieder zu seinem Recht verhelfen.”
Der Wirt ging zur Königin und sprach:
“Liebe Frau, das Kind muß getauft werden.”
Sie antwortete:
Da nahm Warakir das Kind in seine Arme, und der Wirt und die Wirtin gingen mit ihm zur Kirche. Der König von Ungarn hielt sich zu dieser Zeit in der Stadt auf und war früh morgens aufgestanden und wollte draußen spazieren reiten. Da begegnete er dem Kind und fragte den Wirt danach:
“Lieber Wirt, wessen Kind ist das, das ihr zur Kirche tragt?”
“Herr,” sagte der Wirt, “einer armen Frau, die in der Nacht in mein Haus kam und der ich um Gottes Willen Herberge gab. Jetzt hat ihr unser Herrgott heute nacht einen Sohn geschenkt, für den wir einen Paten suchen, der ihm hilft, Christ zu werden.”
“Um Gottes Willen bin ich dazu bereit,” sagte der König.
Sie trugen das Kind in die Kirche. Der König nahm das Kind in seine Arme und sah es sich überall genau an und erblickte dabei das rote Kreuz. Er sagte:
“Ewiger Gott, ich sehe wohl, daß es ein König werden wird, wenn es am Leben bleibt.”
“Wie soll das Kind heißen?,” fragte der Priester.
“Herr,” sprach der König, es soll nach mir Ludwig heißen, denn es ist aus königlichem Geschlecht. Dies weiß ich sehr gut. Gott möge ihm Glück und Ehre gewähren.”
Nachdem es getauft war, sagte der König zum Wirt:
“Guter Wirt, kümmert Euch gut um das Kind, und auch um seine Mutter, denn Ihr werdet dann großes Glück durch dieses Kind gewinnen. Ich bitte Euch, wenn das Kind aufgewachsen ist, bringt es zu mir, so will ich ihm helfen.”
Der König gab für die Königin eine wertvolle Gabe. Der Wirt trug darauf das Kind wieder heim und Warakir sagte der Königin, wie der König von Ungarn das Kind in der Taufe gehalten habe. Als die Königin dies hörte, weinte sie sehr und sprach:
Der Wirt und die Wirtin behandelten die Königin sehr gut. Warakir diente dem Wirt und tat das Beste für das Kind. Als sie das Kind bis zum zehnten Jahr aufgezogen hatten, sagte Warakir zu ihm:
“Liebes Kind, der hiesige König ist dein Pate, und er hat mir befohlen, dich zu ihm zu bringen, sobald du alt genug zum Hofdienst sein würdest.”
“Vater,” sprach Ludwig, “das will ich gerne tun, wenn es meiner Mutter recht ist.”
Warakir berichtete davon der Königin, die sich sehr darüber freute. Sie rief ihren Wirt Joseran herbei und sprach:
“Lieber Wirt, ich bitte Euch um Gottes Willen, führt meinen Sohn zum König.”
“Herrin,” antwortete der Wirt, das will ich gerne tun.”
XXXI. Darauf brachten Warakir und der Wirt das Kind zum König. Als sie zum Hof kamen, sprach der König zum Wirt:
“Joseran, wessen Sohn ist dieses schöne Kind?”
“Herr,” antwortete der Wirt, “es ist Euer Patenkind Ludwig. Sein Vater und seine Mutter, die hier bei mir stehen, haben mich gebeten, es zu Euch zu bringen und Euch zu bitten, daß Ihr das Kind um Gottes Willen erzieht.”
Der König sah Warakir an und dachte in seinem Herzen:
Ich glaube das niemals, daß dieser der Vater des Kindes ist.
Der König antwortete:
“Das will ich gerne tun.”
Sogleich ließ er einen Priester herbeirufen, der das Kind unterrichten sollte. Ludwig ging oft zu seinem Vater Warakir und zu seiner Mutter, um zu sehen, wie es ihnen ging. Der Wirt hatte eine schöne Tochter, die einstmals zu Ludwig sprach:
“Jungfrau,” sprach Ludwig, “ich bin ein armer Mensch und besitze überhaupt nichts. Euer Vater hat meinen Vater und meine Mutter für zehn Jahre aufgenommen und hat dafür nicht einen Heller von uns genommen. Wenn Gott mir die Möglichkeit dazu gibt, will ich es ihm wohl vergelten. Liebe Jungfrau, tut, was richtig ist, Ihr werdet jemanden Euresgleichen finden.”
Als die Jungfrau das hörte, wurde sie sehr traurig.
Ludwig ging immerfort zum Hof des Königs von Ungarn und schaffte es, daß der gesamte Hofstaat ihn schätzte. Einstmals ging Warakir zur Königin und sagte zu ihr:
“Liebe Herrin, wir sind nun mehr als zehn Jahre hier gewesen. Euer Sohn ist nun groß. Es wäre also gut, daß wir weiter bis nach Konstantinopel gingen, um Euren Vater und Eure Mutter zu suchen.”
“Das ist mir recht,” antwortete die Königin.
Damit rief sie ihren Sohn Ludwig zu sich und sagte zu ihm, sie wolle nach Konstantinopel gehen, dort lebten ihr Vater und ihre Mutter, die sie dort suchen wolle.
XXXII. Ludwig antwortete:
“Herrin, wann Ihr wollt.”
Die Wirtin sprach zur Königin:
“Gute Frau, Euer Sohn ist mein Pate, und ich traue mir, ihn zu unterstützen, wenn Gott es nicht tut. Er wird mir wohl vergelten, was ich Euch und ihm gegeben habe. Deshalb nehmt von meinem Besitz so viel, wie ihr benötigt, das will ich Euch gerne geben.”
“Liebe Frau Wirtin,” antwortete die Königin, “unser Herrgott sei Euer Lohn. Ich hoffe, es wird Euch vergolten werden.”
“Ich höre da einen singen, der nie mehr so töricht singen wird, denn ihm mag kein Gold vom Orient helfen, denn er muß sterben. Warakir sang so laut und lange, bis alle Mörder seine Stimme vernahmen, und das ging so lange, bis sie ihn sahen. Als Pinckener die Frau erblickte, begehrte es ihn sogleich nach ihr, und er sagte zu seinen Gesellen:
“Die Frau ist überaus schön. Sie muß noch heute in meinen Armen liegen, und nachdem sie eine Nacht bei mir geschlafen hat, will ich sie euch überlassen, damit ihr auch mit ihr schlafen könnt. Den alten Bauern wollen wir sogleich totschlagen, und auch das Kind, das mit ihm reitet.
Die anderen Mörder sagten gemeinsam:
“Meister, Ihr habt gut gesprochen.”
XXXIII. Darauf liefen sie alle auf Warakir und die Königin zu und riefen mit lauter Stimme:
“Du alter häßlicher Bauer, du hast heute ein Lied gesungen, das dir deinen Kopf kosten wird. Wir wollen unseren Willen mit dieser schönen Frau haben.”
Als Ludwig dies vernahm, wurde er ganz rot im Gesicht. Warakir antwortete:
“Sohn Ludwig, erschrick nicht, ich würde mir nicht wegen dieser Schalke Sorgen machen.”
“Ewiger Gott,” rief die Königin, “mögest du heute zu Hilfe kommen gegen diese bösen Menschen!”
Der Räuberhauptmann warf ein Messer auf Warakir, das durch sein Hemd und andere Kleider ging. Aber es verletzte ihn nicht. Darauf schlug Warakir den Hauptmann, daß er tot da lag. Warakir rief:
“Ihr falschen bösen Verräter, ihr müßt hier alle sterben!”
Als die anderen Mörder sahen, daß ihr Hauptmann erschlagen war, begannen sie zu fliehen. Warakir und Ludwig hatten sechs von ihnen getötet, und die anderen fünf waren schwer verwundet. Der eine Mörder fiel vor Ludwig auf seine Knie und sagte:
“Lieber Herr, habt Erbarmen mit mir, verschont mein Leben, denn es könnte eine Zeit kommen, daß ihr meiner bedürft. Ich bin der Klügste Dieb, den es auf der Welt gibt, denn es gibt keinen Schatz, und mag er noch so verborgen sein, ich getraue mich doch, ihn zu stehlen. Ich kann auch Pferde stehlen und alle Schlösser öffnen.”
Während die zwei miteinander redeten, kam Warakir herbei und sagte:
“Ludwig, lieber Sohn, warum tötest du den Bösewicht nicht?”
“Lieber Vater,” sagte Ludwig, “wenn es wahr ist, was er mir erzählt, so soll er mein guter Freund sein, und ich will ihm kein Leid antun. Er hat mir gesagt, daß es keinen noch so versteckten Schatz gebe, den er sich nicht zu stehlen getraue, und er könne alle Schlösser öffnen. Das gefällt mir alles gut.”
Da sprach Warakir zu dem Mörder:
“Wie heißt du?”
“Herr,” sprach er, “ich heiße Grymmener.”
“Bei meiner Treue,” sagte Ludwig, “das ist ein guter Name für einen Mörder. Kann ich dir auch trauen?,” fragte Ludwig.
“Nun sage mir,” sagte Ludwig, “wie weit ist es aus dem Wald raus, denn die Frau, die hier reitet, ist sehr erschöpft.”
“Herr,” antwortete Grymmener, “es sind noch sieben Meilen durch den Wald, und dazwischen gibt es weder Dörfer noch Städte. Aber in drei Meilen gibt es eine schöne Quelle, dort wohnt ein heiliger Bruder [Eremit], der ein Priester ist. Ich habe seine Messe oft angehört. Meine Gesellen und ich sind oft zu ihm gegangen, um ihn zu ermorden, aber Gott wollte dies nicht zulassen, denn so oft wir dorthin kamen, konnten wir ihm nichts antun. Dieser Begarde ist ein hochgeborener Mann. Er ist der Bruder vom Kaiser von Konstantinopel. Jener hat zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter hat der König von Frankreich geheiratet.”
Als Warakir dies hörte, sah er die Königin an und sah, daß sie bitterlich weinte. Darauf sagte er leise zu ihr:
“Liebe Herrin, weint nicht, es soll Euer Sohn Ludwig nicht bemerken.”
Darauf ritten sie so lange, bis sie zum Haus des Begarden kamen.
XXXIV. An der Tür des Begarden hing ein Klopfer. Warakir war der erste und klopfte mit dem Klopfer an. Der Begarde kam heraus, segnete sich und sprach:
“Seid mit Gott willkommen, liebe Freunde. Mich wundert es, woher ihr gekommen seid, und wieso euch die Mörder nicht erschlagen haben. Denn es gibt viele Mörder in diesem Wald.”
“Herr,” sagte Warakir, “ich habe heute ein Urteil über sie gesprochen.”
Der Begarde antwortete:
“In dreißig Jahren sah ich nie einen Menschen, der hierher gekommen wäre, ohne beraubt oder geschlagen worden zu sein. Wer ist diese schöne Frau? Es ist sehr erstaunlich, daß sie unverletzt und ohne Schmach erfahren zu haben so sicher hierher gekommen ist.”
“Ihr guten Freunde,” antwortete der Begarde, “ich habe in meinem Haus nicht mehr als ein Haferbrot, und weiß auch nicht, woher ich etwas leihen soll. Ich lebe nämlich fern von allen Menschen und besitze auch weder Betten noch Stroh, auf dem ihr heute liegen könntet.”
“Guter Herr,” sagte Ludwig, “beherbergt uns heute, der Herrgott wird uns genug an Nahrung beschaffen.”
“Dann kommt her,” sagte der Begarde. “Alles, was ich habe, das übergebe ich in Eure Gewalt.”
XXXV. Darauf sprach er zum Ludwig:
“Lieber Freund, du bist ein junger Mann. Wenn du das Brot essen willst, das ich esse, will ich es dir gerne geben.”
“Herr,” sprach Ludwig, “dafür danke ich Euch sehr. Bringt Euer Brot her, denn wir wollen alle gerne essen.”
Die Königin ging zum Begarden und sagte:
“Guter Herr, gebt mir guten Rat, denn den brauche ich.”
“Liebe Frau,” sagte der Begarde, “mir scheint, ihr seid von guter Abstammung. Darum bitte ich Euch, sagt mir, wer Ihr seid.”
“Herr,” antwortete die Königin, “Kaiser Richard von Konstantinopel ist mein Vater und verheiratete mich mit dem König von Frankreich, der mein Ehemann ist. Böse Verräter haben es geschafft, daß mich der König, mein Ehemann, aus seinem Land verjagt hat.”
Damit sagte sie dem Begarden die ganze Geschichte, wie der Verrat vonstatten gegangen war.
Als der Begarde die Königin angehört hatte, begann er heiße Tränen zu weinen und sprach:
“Liebe Frau, Ihr seid meine Nichte. Euer Vater ist mein Bruder. Darum will ich diese Klause verlassen und mit Euch nach Konstantinopel zu Eurem Vater ziehen. Dort will ich mit meinem Bruder besprechen, um viele Leute zusammenzubringen. Mit denen werden wir zum König von Frankreich ziehen, und wenn Euch dann der König nicht wieder annimmt, wollen wir ihm sein ganzes Land zerstören. Danach will ich wieder hierher kommen und meine Buße auf mich nehmen.”
Damit wandte sich der Begarde an Warakir.
“Lieber Freund, würdest du uns etwas zu essen und zu trinken holen?”
“Herr,” sprach Warakir, “ich will gerne so lange reiten, bis ich in irgendein Dorf komme, wo ich für uns Nahrung finde.”
Als Grymmener diese Worte vernahm, sprang er vor und sagte:
“Herr, ich will uns genug holen. Ich kenne alle Wege, und wenn es mir an Geld fehlt, werde ich schon genug finden.”
“Dann geh,” sagte der Begarde, “denn wir wollen alle gerne essen.”
Grymmener ging fort und hatte nicht mehr als zehn Schillinge bei sich. Er kam in eine Stadt zum Fischmarkt, dort feilschte er um Fische. Der Fischer bot sie ihm für zwanzig Schillinge.
Ewiger Gott, dachte Grymmener, “nun hast du nicht mehr als zehn Schillinge, damit kannst du nichts machen.
Grymmener verhandelte lange mit dem Fischer, aber der Fischer wollte die Fische nicht anders herausgeben. Da dachte Grymmener bei sich:
Oh allmächtiger Gott, so komme ich niemals weg von hier, es sei denn, ich habe die Fische und genug andere Nahrungsmittel.
Grymmener rief einen Knecht zu sich und sagte ihm:
“Guter Geselle, sage mir, wer ist der reichste in dieser Stadt?”
Als Grymmener dies vernommen hatte, ging er in eine Ecke, machte sein Gesicht schwarz, nahm zwei Krücken und ging damit vor das Haus des reichen Mannes, der Schultheiß dieser Stadt war. Grymmener drückte ein Auge zu, das andere hielt er offen und bat um Gottes Willen um Herberge. Der Schultheiß saß bei seiner Frau, und viele andere Leute waren bei ihm. Er sagte:
“Freund, hier gibt es keine Herberge für dich, denn man gibt keinem armen Menschen Unterschlupf in diesem Haus.”
“Lieber Hauswirt,” sagte die Schultheißin, “gebt diesem armen Mann heute noch um Gottes Willen Herberge.”
“Schweig, Frau,” sagte der Schultheiß. “Er ist ein schlimmer Mann und könnte uns heute noch alles rauben, was wir besitzen.”
“Lieber Herr,” sagte Grymmener, “das ist eine große Sünde, was Ihr da sagt, denn Ihr seht doch gut, wie mein Körper gestaltet ist. Ich könnte doch nicht zehn Mark Gold verdienen, selbst wenn ich jetzt zehn Schritte ginge.”
“Kommt rein,” sagte der Schultheiß, “ ich will euch noch heute um Gottes Willen Herberge geben.”
“Guter Herr, hat Euch derjenige das viele Gut davongetragen, den ich in der Nacht vor Eurer Tür sah? Er stand da, als ob er nirgendswohin kriechen könne. Wirklich, man sollte solchen Kerlen niemals glauben.”
“Lieber Freund,” sagte der Schultheiß, “wie das Sprichwort sagt, wer den Schaden hat, soll auch den Spott dazu haben. Geh weg und laß mich in Ruhe.”
Grymmener entfernte sich und kaufte genug Fisch, Fleisch und Brot, packte alles zusammen und ging zu dem Felsen, wo er sein Zeug hatte. Dies nahm er auf seinen Rücken, doch war es so schwer, daß er fast zusammengebrochen wäre. Da begegnete Grymmener ein armer Mann, der führte einen mit Holz beladenen Esel. Zu diesem sprach er:
“Freund, verkauft mir den Esel, ich will dir genug Geld dafür geben.”
“Wahrlich,” sagte der arme Mann, “du bemühst dich umsonst, ich verkaufe dir den Esel nicht für all das, was du trägst.”
Über diese Worte wurde Grymmener zornig, legte sein Paket nieder, sagte dem armen Mann ein Wort ins Ohr, wodurch er sofort niedersank und tief einschlief. Darauf lud Grymmener das Holz vom Esel ab und legte sein Zeug darauf und fuhr sogleich zur Klause.
“Mir scheint,” sagte Grymmener, “ihr wollt alle essen. Seht, ich bringe uns genug Nahrung.”
Damit entlud er seinen Esel, und all das, was er mitgebracht hatte, gab er Ludwig. Dieser bedankte sich sehr. Darauf nahm Grymmener den gefütterten Rock und gab ihn der Frau, wofür sie ihm sehr dankte. Als Warakir das Gut sah, fragte er Grymmener:
“Auf meine Treue, hast du von irgend jemandem diese Sachen geraubt oder gestohlen?”
Ludwig nahm Grymmener auf die Seite und sprach zu ihm:
“Lieber Grymmener, sage mir, hast du auch niemanden ermordet?”
“Herr,” antwortete Grymmener, “Ihr redet wie ein Tor. Gott im Himmel hat Euch das Gut gesandt, und da er es Euch gesandt hat, so nehmt es auch fröhlich.”
“Du hast recht,” sagte der Begarde.
Darauf bereiteten sie das Essen und setzten sich zu Tisch. Der Begarde sprach:
“Nun sei Gott im Himmel gedankt, ich bin in vielen Jahren nie so satt geworden. Gott möge ihm barmherzig sein, von dem es alles gekommen ist.”
Nachdem sie gegessen hatten, wurde Ludwig schläfrig, legte sich nieder und schlief ein. Der Begarde beugte sich über Ludwig, küßte ihn auf seinen Mund und vergoß heiße Tränen. Dann sagte er:
“Ach ewiger Gott, wie konnte König Karl seine Frau verjagen, obwohl sie doch eine so ehrbare Frau ist, so schön ist und auch ein so schönes Kind getragen hat? Verflucht seien die Verräter, die bei ihm sind. Ich hoffe bei Gott, daß sie ihren Lohn dafür empfangen.”
Darüber erwachte Ludwig und sah, daß der Begarde bittere Tränen vergoß. Er sagte:
“Lieber Sohn,” sagte der Begarde, “das will ich Euch sagen. Ihr glaubt, daß Ihr der Sohn dieses alten Mannes seid. Aber bei meiner Treue, Ihr stammt nicht von ihm ab, denn Ihr seid der Sohn des Königs von Frankreich, und Eure Mutter ist wegen großer Verräterei vertrieben worden. Eure Mutter ist die Tochter meines Bruders, und wenn Ihr es hören wollt, so will ich Euch sagen, wie es sich alles ereignet hat.”
Damit begann der Begarde und erzählte Ludwig alle Dinge, wie sich zugetragen hatten.
“Lieber Neffe,” sagte der Eremit, ich will mit Euch zu meinem Bruder reiten, der Euer Großvater ist, dem wollen wir die ganze Sache vorlegen.”
Am Abend gingen sie schlafen, und am frühen Morgen packten sie alles und machten sich auf den Weg. Ich erzähle euch nichts von ihren Tagereisen, denn sie ritten so lange, bis sie nach Rom kamen, wo sie den Papst in seinem Palast fanden. Zu dem ging der Begarde und erzählte ihm genau, wie der König von Frankreich seine [des Begarden] Nichte vertrieben habe und wie sich alle Dinge ereignet hatten. Als der Papst das hörte, war er sehr traurig und sagte, er wollte mit ihnen nach Konstantinopel gehen und wollte dazu beitragen, was er Gutes tun könne. Der Papst fragte die Königin, wie alles passiert war, was sie ihm genau erzählte. Der Papst begann sich darüber zu wundern. Sogleich ließ er ein Schiff bereiten und fuhr mit dem Begarden und den anderen nach Konstantinopel, was sehr lange dauerte. Dort trafen sie den Kaiser an.
XXXVII. Als der Kaiser vernahm, daß der Papst eingetroffen sei, ging er ihm entgegen und empfing ihn herrlich. Der Kaiser sah die Tochter lange an und konnte sie kaum erkennen. Schließlich sprach er:
“Seid Ihr nicht meine Tochter, die ich so lieb hatte?”
“Ja, lieber Herr,” sagte sie, “ich bin es.”
Damit fiel sie ihrem Vater um den Hals, umarmte und küßte ihn und begann heiße Tränen zu vergießen. Er sagte:
“Vater,” sprach die Königin, “der König hat böse an mir gehandelt.”
Nun begann der Papst und erzählte dem Kaiser, wie alles zugegangen war. Als der Kaiser dies hörte, seufzte er tief, ging zu Ludwig und küßste ihn freundlich und sagte zu ihm:
“Lieber Sohn, dein Vater hat mir nicht gehalten, was er mir versprochen hat. Er hat mir gesagt, daß er meine Tochter freundlich und gütlich behandeln wolle. Dies hat er nicht getan und und sich meiner Tochter gegenüber nicht wie ein Ehrenmann verhalten.”
“Lieber Herr,” sagte die Königin, “wenn es Warakir, den tüchtigen Mann, der hier bei mir steht, nicht gegeben hätte, so wäre ich niemals in dieses Land gekommen.”
“Liebe Tochter,” sagte der Kaiser, “das glaube ich Euch gerne. Darum will ich, so lange ich lebe, diesen tüchtigen Mann nicht mehr fortlassen.”
“Bruder,” sagte der Begarde, “holt aus Eurem Land alle diejenigen, die einen Harnisch tragen können, sie sollen sich alle versammeln. Dann laßt uns nach Frankreich ziehen, um dem König alle seine Länder zu zerstören und die Menschen zu töten. Wenn er meine Nichte nicht wieder annimmt, wollen wir in tatsächlich aus seinem Land vertreiben.”
“Bruder,” sagte der Kaiser, so wie Ihr es gesagt habt, soll es sein.”
Der Kaiser rief in seinem Land aus, daß, wer einen Harnisch tragen könne, sich in einem Monat bei ihm einfinden solle. Der König von Coine kam zuerst zu ihm und brachte so viele Leute, wie er besaß. Genauso kamen auch die anderen. Der Kaiser bereitete seine Schiffe und ließ die Segel aufrichten. Er, der Papst, die Königin und alle ihre Ritter gingen auf die Schiffe und fuhren übers Meer, bis sie nach Venedig kamen. Ich erzähle euch nichts von ihren Tagereisen, denn sie ritten so lange, bis sie nach Frankreich kamen.
“Wer bist du, gegen den ich gerannt bin?”
Ludwig sagte:
“Ich bin der Sohn von König Karl von Frankreich, von wo die falschen Verräter meine Mutter verjagt haben. Wenn mein Vater, der König Karl, meine Mutter nicht wieder aufnimmt, so werden er und sein Land niemals Frieden von mir gewinnen.”
“Ewiger Gott,” sagte Emmerich, “ich danke deiner göttlichen Gnade, ich habe meinen rechten Herrn wiedergefunden. Lieber Herr,” sagte Emmerich, “ich will jetzt ohne jegliches Falsch von Euch [als Lehen] empfangen, was ich und meine Kinder von Euch zu Lehen haben sollen. Ich gebe Euch meine Tochter Wißblume als Ehefrau.”
“Dafür danke ich Euch,” sagte Ludwig.
Emmerich war sehr froh, daß er sich mit Ludwig versöhnt hatte. Sie ließen den Trompeten schmettern und den Frieden verkünden. Emmerich ritt zur Königin und empfing sie fröhlich.
XXXIX. Sie zogen so lange weiter, bis sie nach Troye kamen. Dort schlugen sie ihre Zelte auf. König Karl erhielt die Nachricht, daß sein Sohn Ludwig und der Kaiser von Konstantinopel mit großer Heermacht in sein Land eingebrochen seien. Da befahl er seinen Leuten, sich zu versammeln. Die Männer von Troye wollten nicht gegen Ludwig kämpfen und ließen ihn sogleich in die Stadt und übergaben ihm die Schlüssel. So gelangten sie unter großen Freuden in die Stadt. Warakir dachte an seine Frau und seine Kinder und begann heftig zu weinen. Er sagte:
So ging Warakir zu Ludwig und fiel vor ihm auf die Knie und sprach:
“Gnädiger lieber [Herr], ich bitte Euch, laßt mich jetzt meine Frau und meine Kinder sehen.”
“Warakir,” sagte Ludwig, “wenn Ihr jetzt von mir weggeht, so werde ich nie mehr froh, denn wenn Euch die Feinde erwischen, werden sie Euch viel Leid antun.”
“Herr,” sagte Warakir, “darüber macht Euch keine Sorgen, solange ich einen guten Knüppel in der Hand habe.”
Als das die Königin hörte, sagte sie:
“Lieber Warakir, wollt Ihr Euch von uns trennen?”
“Nein, Herrin,” sagte Warakir, ich wäre nur gerne in Amiens und möchte meine Frau und Kinder sehen, denn es ist sehr lange her, daß ich sie sah.”
“Wenn es so ist,” sagte die Königin, “will ich Euch gerne Urlaub gewähren. Warakir,” sagte die Königin, “sagt Eurer Ehefrau: Wenn Gott mir hilft, wieder Königin zu werden, werde ich Euch so reich machen, daß davon Eure Kinder ein besseres Leben haben werden. Nehmt diese zwanzig Mark und diesen Rock und bringt das Eurer Ehefrau.”
Dafür bedankte sich Warakir sehr, nahm von Ludwig und der Königin Urlaub, verkleidete sich als Pilger und so lange, bis er nach Amiens kam. Als Warakir zu seinem Haus gelangte, die Tür aufmachte und reinging, fand er seine Frau bei den Kindern in großer Armut, und diese sagte zu ihnen:
“Ihr lieben Kinder, wie lieb ich euch habe. Aber verflucht sei euer Vater, denn er hat mich hier in großer Armut zurückgelassen. Ich habe weder zu essen noch zu trinken. Ich sehr nur zu gut, daß es keine größere Trübsal gibt als Armut.”
Damit legte sie ihren Kopf in ihre Hände und begann heftig zu weinen. Als Warakir seine Ehefrau so sah, begann er auch zu weinen und sagte:
“Gute Hausfrau, gebt mir heute um Gottes Willen Herberge.”
“Liebe Frau,” sagte Warakir, “wie heißt Ihr?”
Sie sagte:
“Ich heiße Merie, und der, von dem ich Euch erzählt habe, hat mir vier kleine Kinder gegeben. Eins davon habe ich in die Stadt geschickt, um für uns um Brot zu betteln. Eins ist in den Wald gefahren, um auf dem selben Esel, mit dem auch sein Vater in den Wald fuhr, uns Holz zu holen.”
Da griff Warakir in seinen Beutel und gab seinem Kind Geld und sagte zu ihm:
“Liebes Kind, kannst du uns Wein und Brot kaufen?”
“Ja,” sagte das Kind, “das kann ich wohl.”
XLI. Das Kind nahm das Geld und ging fröhlich davon, denn es war sehr froh, daß es ihm so gut gehen sollte. Es kaufte Fleisch und Brot, und dazu auch genug Wein. Warakir nahm Holz und machte ein gutes Feuer. Inzwischen kamen seine Söhne aus dem Wald mit dem Esel. Als der Esel Warakir sah, began er sehr zu schreien. Darüber wunderten sich die Frau und die Kinder sehr. Warakir bereitete ihnen zu essen, so daß sie alle genug hatten und vergnügt speisten. Da wurden die Kinder alle froh und sagten:
“Liebe Mutter, wir haben einen anderen Vater gefunden.”
“Lieber Bruder,” sagten die Kinder, “bleibt hier bei uns und geht nicht mehr weg.”
Warakir sah seine Frau and und sagte:
“Liebe Frau, wo soll ich heute nacht liegen?”
Sie sagte:
Ich habe hier unten einen Keller, dorthinein will ich Euch genug Stroh bringen, daß Ihr gut dort liegen könnt. Ein anderes Bett habe ich nicht.”
Als die Frau das hörte, rief sie:
“Du Schalk und Bösewicht, Gott bringe dir viel Unglück. Geh gleich aus meinem Haus, und wenn du nicht bald gehst, so will ich meine Nachbarn rufen und dir deine Haut tüchtig schlagen.”
Als Warakir dies hörte, fing er zu lachen an. Die Frau sah ihn an und fragte:
“Guter Freund, sage mir, wer bist du?”
Er sagte:
“Liebe Frau, ich bin Euer Ehemann Warakir, den Ihr früher sehr lieb gehabt habt. Mein Esel erkannte mich gut, aber Ihr habt mich nicht erkannt. Hörtet Ihr nicht, wie er schrie, sobald er mich sah?”
Als die Frau ihren Ehemann hörte, fiel sie ihm weinend um seinen Hals, umarmte und küßte ihn. Da konnte man Zeichen großer Freude sehen.
“Liebe Frau,” sagte Warakir, “redet nicht davon, denn ich bin jetzt heimlich hier. Seht, das sind zwanzig Mark Silber und ein Rock, den hat euch heute meine Herrin geschickt.”
Darüber freute sich die Frau sehr, denn sie hatte lange Zeit in Armut gelebt.
Als Warakir gute zwei Nächte bei seiner Ehefrau gewesen war, sagte er zu ihr:
“Liebe Hausfrau, ich muß nach Paris und die Verräter sehen, die meine Herrin verjagt haben. Ich möchte den Tag gerne erleben, an dem ich dazu beitragen kann, die Bösewichte aufzuhängen.”
Sie sagte:
“Lieber Ehemann, hütet Euch, daß Ihr nicht in Ihre Hände fallt.”
Er sagte:
“Ich will mich, wenn Gott will, gut vorsehen.”
“Ewiger Gott, gib König Karl die Vernunft, daß er seine Ehefrau, die Königin, wieder aufnimmt!”
König Karl ging am Rand des Flusses mit seinen Fürsten und Räten und besprach sich mit ihnen. Er nahm Nimo von Bayern unter seinen Mantel und sagte:
“Lieber Nimo, was ratet Ihr mir? Meine Leute sind nun alle gekommen.”
“Herr,” sagte Nimo, “ich will Euch einen guten Rat geben. Wenn Ihr mir folgen wollt, so rate ich, daß Ihr wieder meine Herrin annehmt, denn ich weiß wirklich, daß ihr Unrecht geschehen ist. Euer Sohn Ludwig ist jetzt in die Champagne gekommen und führt mit sich seinen Großvater und seinen Onkel sowie ein großes Heer, wie ich gehört habe. Wenn es zu einem Kampf kommt, so fürchte ich, daß Ihr schlecht davon kommen werdet. Deshalb, lieber Herr, bitte ich Euch um Gottes Willen, daß Ihr wieder meine Herrin annehmt. Damit verdient Ihr Euch viel Dank von Gott und der Welt.”
Bei ihnen stand ein Verräter namens Maucion und hörte diese Rede.
“Herr,” sprach Maucion, “wenn Ihr die Herrin wieder aufnehmt, dann seid Ihr nicht ein tapferer Mann, denn ich weiß sehr gut, daß sie sehr gemein ist. Es gibt keinen Kerl, mit dem sie nicht in den Gräben gelegen hätte und dem sie nicht seinen Willen erfüllt hätte.”
Warakir hörte diese Worte und sagte:
“Du lügst wie ein Schalk und ein Bösewicht, und würde ich jetzt nicht König Karl fürchten, würde ich dich jetzt so schlimm mit meinem Stock schlagen, wie es dich noch nie geschmerzt hat.
Über diese Rede begannen König Karl und die anderen sehr zu lachen.
“Begarde,” sagte König Karl, “woher kommst du?”
XLII. “Begarde,” sagte der König, “drohen die Leute von Konstantinopel meinem Land und mir sehr?”
“Herr,” sagte Maucion, “ich sage Euch fürwahr, der Begarde ist ein Spion. Ich bitte Euch, laß ihm seine Augen ausstechen und dann aufhängen.”
Der König antwortete:
“Das will ich nicht tun, denn ich will mehr erfahren, was er zu machen versteht.”
“Begarde,” sagte der König, “was kannst du? Kannst du etwas, womit du dich zu ernähren verstehst?”
“Ja, Herr,” sagte Warakir, “ich kann gut mit Pferden umgehen. Es gibt keine Pferdekrankheit, die ich, sobald ich das Tier untersucht habe, nicht bald erkenne, und ich getraue mich auch, sie mit Gottes Hilfe gut zu heilen.”
“Begarde,” sagte der König, “wenn du diese Kunst verstehst, willst du dann bei mir bleiben, ich will dir auch guten Lohn geben. Ich haben ein sehr edles Pferd, das so stolz ist, daß es sich nicht anfassen lassen will außer von mir. Könntest du ihm das austreiben, wollte ich dir eine große Belohnung geben.”
“Herr,” sagte Warakir, “laßt das Pferd bringen, dann will ich schnell erkennen, was ihm fehlt.”
Der König sagte:
“Das soll sogleich geschehen.”
XLIII. Der König ließ sein Pferd holen, und vier Knechte brachten es ihm. Als das Pferd herbeikam, hob es seinen Kopf und begann laut zu wiehern. Alle sagten zueinander:
“Wer hat je ein schöneres Pferd gesehen?”
Als Warakir das Pferd sah, dachte er bei sich:
König Karl befand sich auf einer schönen Wiese und sah sich das Pferd an, das ihm sehr gut gefiel.
“Begarde,” sagte der König, “du bist weit herumgekommen. Hast du jemals ein schöneres Pferd gesehen?”
“Herr,” sagte Warakir, “wenn Ihr mir einen Sattel bringt und mich darauf sitzen laßt, so werde ich bald herausfinden, wie man ihm helfen kann.”
“Das soll geschehen,” sagte der König.
Man brachte sogleich einen Sattel und legte ihn auf das Pferd. Als Warakir sich daraufsetzen wollte, schlug das Pferd aus und verhielt sich so gräßlich, daß Warakir fast auf die Erde gefallen wäre. Alle sprachen zueinander:
“Wir werden hier einen großen Spaß erleben. Der Begarde wird gleich am Boden liegen.”
Dies hörte Warakir und sagte leise zu sich selbst:
Das werde ich nicht, wenn Gott es so will.
Warakir hielt sich stark am Haar des Pferdes fest und blieb oben.
XLIV. Als er oben auf saß, trabte er einmal die Wiese hoch und wieder runter zum König und sagte:
“Herr König, ich bin Warakir, der mit Eurer Ehefrau der Königin weggegangen ist, und ich will Euerm Sohn Ludwig dieses Pferd bringen. Ich sage Euch: wenn Ihr nicht meine Herrin wieder als Königin annehmt, so wird dieses ganze Land zu Schanden.”
Nach dieser Rede drehte sich Warakir um und ritt davon. Der König rief:
“Eilt dem Verräter nach, der mir [m]ein Pferd gestohlen hat, denn wer mir mein Pferd wiederbringt, und dazu den Verräter, dem will ich hundert Mark geben.”
“Ja,” sagten sie, “er läuft sehr schnell davon.”
“Eilt hinterher,” rief der König, damit ich den Verräter fange.
Warakir ritt so lange, bis er nach Amiens kam, wo er einem seiner Söhne begegnete und zu ihm sprach:
“Lieber Sohn, grüß mir die Mutter und sage, daß ich sie, wenn es Gott wolle, sofort zu sehen wünsche.”
Darauf versteckte er sich so lange hinter seinem Sohn, daß ihn der König nicht sehen konnte, der nahe an ihm vorbei kam. Dieser sagte:
“Du alter trügerischer Verräter, du wirst noch, bevor es abend wird, am Galgen hängen.”
“Ich werde es nicht, wenn Gott so will,” sagte Warakir.
Damit trieb Warakir das Pferd mit seinen großen Schuhen an, und dieses rannte behende davon. Er ritt durch die Nacht bis an den Morgen. Der König ritt auch die ganze Nacht, und am Morgen kam er in die Stadt Apryemenis. Dort fragte er die Bürger, ob sie irgendwo einen alten Mann mit einem Pferd gesehen hätten. Sie sagten nein, sie hätten keinen gesehen. Warakir ritt so lange, bis er zum Heer von Ludwig, König Karls Sohn, kam. Zu diesem sagte er:
“Herr, seht dieses Pferd bringe ich Euch, das ich Eurem Vater, König Karl, entführt habe.” Damit erzählte Warakir dem König Ludwig und seinem Heer, wie es ihm ergangen war.
“Wollt Ihr Euren Vater Karl finden, geht, er ist kaum sieben Meilen entfernt.”
“Ja, Herr,” antwortete Warakir, bei meiner Treue. Wenn Ihr Euren Vater fangen wollt, dann könnt Ihr das jetzt tun, er kann Euch nicht entgehen.”
“Wohlan, ihr Herren,” rief Ludwig, “ich würde sehr gerne meinen Vater gefangen setzen, auf daß er meine Mutter wieder aufnimmt.”
Darauf wappnete sich das ganze Heer und ritten dem König entgegen.
“Ewiger Gott,” sagte Ludwig, nun gib meinem Vater die Bereitschaft, daß er meine Mutter wieder akzeptiert.”
Nimo von Bayern bemerkte, daß sich der König [Ludwig] mit seinem ganzen Heer näherte. Deshalb sagte er:
“Herr König, es steht mit uns schlecht, denn Euer Sohn und das ganze Heer kommen auf uns zu. Wir sind dem alten Schalk zu weit nachgeeilt. Ihr wollt den Verrätern folgen und Eure Ehefrau nicht wieder aufnehmen, und wenn uns nun etwas deswegen geschieht, dann geschieht es uns ganz zu recht. Wie sollen wir uns wehren, da wir keinen Harnisch haben, und nur unser nacktes Schwert. Wir sind niemals in größere Not geraten. Wir haben nichts zum Essen in diesem Schloß und können uns auch nicht halten.”
“Nimo,” sagte der König, “der Kaiser haßt mich sehr, es ist ratsam, zu fliehen, als sich schandhaft gefangen nehmen zu lassen.”
Ich sage euch mit voller Wahrheit, es gab niemals einen Franzosen, dessen Leib mehr vor Furcht zitterte, denn sie hatten große Angst vor diesem Heer.
“Herr,” sagte Nimo, ich kenne hier in der Nähe ein Schloß ungefähr sieben Meilen entfernt, das sehr stark ist. Wenn wir dort oben zusammen sind, werden wir wohl eine Weile sicher sein.”
“Wie heißt es?” fragte der König.
“Herr,” sagte Nimo, “es heißt Hattwil.”
“Nun denn,” antwortete der König, “reiten wir dorthin.”
Aber ehe der König dorthin gelangte, traf sein Sohn Ludwig und das ganze Heer ein und eilten ihm nach. Sie fingen etwa fünfundzwanzig Ritter, unter denen ein Teil der Verräter war, die geraten hatten, daß man die Königin verjagen sollte. Einer von ihnen hieß Maucion.
“Herr, wir sind Franzosen und bitten Euch in Gottes Namen, daß Ihr unser Leben verschont, denn wir verpflichten uns Euch.”
Da kam Warakir, sah die zwei Verräter und sagte:
“Herr, ich kenne zwei von ihnen gut. Es sind zwei schlimme Schalke, denn es sind diejenigen, die zum König sagten, daß man mich aufhängen sollte, denn ich wäre ein Spion. Sie sind es auch, die gesagt hatten, daß meine Herrin die Königin nicht tugendhaft wäre, denn sie gäbe sich mit anderen Männern ab. Herr, ich bitte Euch, laßt die Schurken zum Galgen schleifen.”
“Das ist mir nur lieb,” sagte Ludwig.
Darauf schleifte man sie sofort hin und hing sie in Richtung zum Schloß auf, wo der König sich aufhielt.
XLVI. Ludwig lagerte sich in der Nähe vom Schloß. Als König Karl das sah, sagte er:
“Ach ewiger Gott, wie tut es mir leid, daß ich mit eigenen Augen sehen muß, daß meine Männer aufgehängt wurden.”
XLVII. Ludwig sagte zu den anderen Gefangenen:
“Ihr Herren, ich lasse euch frei. Reitet wieder zu meinem Vater, König Karl, und grüßt mir herzlich Nimo von Bayern und Otger von Dänemark. Obwohl ich sie nie gesehen habe, so habe ich doch viel Gutes von ihnen gehört. Ich möchte gerne den Tag erleben, daß ich sie voll Freuden sehen kann. Sagt ihnen, ich bäte sie um Gottes Willen, daß sie meinem Vater raten, meine Mutter wieder anzunehmen.”
Die Gefangenen dankten Ludwig sehr und ritten zurück zu König Karl. Als sie zu ihm kamen, sagten sie:
“Ach ewiger Gott,” sagte König Karl, “in welche Schande bringt mich der alte Narr.”
Darauf nahm König Karl Otger und Nimo zur Seite und sagte:
“Ihr Herren, was soll ich nach Eurer Meinung tun?”
“Herr,” sagte Nimo, “wir haben hier nicht für einen Heller zu essen. Ich rate, daß wir hinausreiten. Vielleicht gibt uns unser Herrgott einen Rat.”
“Dies ist mir recht,” sagte der König, vielleicht kann ich den alten Narr fangen, den ich lieber [in meiner Gewalt] hätte als mein Königreich.”
Darauf ritten sie heimlich den Berg hinab und ritten so lange, bis sie zum Heer kamen. Dort zogen sie alle ihr Schwert und riefen:
“Montigoy, König Karl!”
Als die Männer von König Ludwig das hörten, wappneten sie sich sogleich. Als die Franzosen das bemerkten, zogen sie sich zurück, denn sie waren für sie nicht stark genug. Als die Franzosen wieder zurück ritten, begegneten ihnen König Ludwig, der Kaiser und Warakir, der auch auf einem Pferd saß. Er näherte sich Otger von Dänemark und schlug ihm heftig mit einem Stock auf seine Hände. Als Otger den Schlag verspürte, ergriff er Warakir und zog ihn schnell an seinem Bart den Berg hinauf. Warakir schrie laut:
“Helft mir, denn wenn ich dorthin komme, muß ich sterben!”
Ludwig und seine Männer hörten das und rannten heftigst hinterher, aber sie kamen nicht rechtzeitig dorthin. Otger zog [Warakir] in die Burg. Als Ludwig sah, daß er Warakir nicht befreien konnte, schrie er jämmerlich auf, denn er fürchtete sehr, daß man Warakir töten würde. Otger führte Warakir vor König Karl. Die Franzosen liefen ihm alle nach. Da stand einer namens Alories, der auch einer der Verräter war. Er sagte zu König Karl:
“Herr, das ist der alte Schalck, der mit Eurem Pferd wegritt, ich kenne ihn sehr gut.”
“Du böser Kerl, ich vernehme recht gut, daß du auch einer derjenigen bist, die es zuwege gebracht haben, daß meine Herrin, die Königin, verjagt wurde. Dafür wird dich mein Herr, König Ludwig, büßen lassen. Er wird euch Verräter allesamt aufhängen lassen.”
Als der König das sah, wurde er sehr zornig und befahl sogleich, einen Galgen errichten zu lassen und Warakir daran aufzuhängen. Er sagte:
“Ich werde nicht einen Wagen voll Geld dafür annehmen, daß ich den alten Narren gehen lasse.”
“Ewiger Gott,” sagte Warakir, “der du am Kreuz gestorben bist, nun erbarme dich meiner. Ach Ludwig, lieber Herr, möge Jesus Euch die Gnade gewähren, daß Ihr Euch wieder mit Eurem Vater versöhnt!”
Sogleich brachte man eine Leiter und warf Warakir ein Seil um den Hals. “Du alter Schalck,” sagte Alories, “jetzt kann dir weder Gott noch Mann oder Frau helfen. Du mußt hängen.”
Bei diesen Worten begann Warakir heiße Tränen zu weinen.
XLVIII. Warakir bat Gott von ganzem Herzen, daß er ihm barmherzig sein möge. Unterdessen kamen Nimo von Bayern und Otger von Dänemark herbei.
“Begarde,” sagte Nimo, “du hast dem König sein Pferd gestohlen, dafür mußt du am Galgen hängen.”
“Lieber Herr,” antwortete Warakir, “seid gnädig mit mir, denn ich habe Frau und Kinder verlassen meiner Herrin, der Königin willen. Ich ging mit ihr bis in die große Stadt Grymmes, wo sie meinen Herrn, König Ludwig, gebar.”
“Begarde,” sagte Nimo, “bist du derjenige, der, wie ich gehört habe, mit der König wegging?”
“Ja, lieber Herr. Ich ließ meine Arbeit sogleich wegen der Königin fallen.”
“Herr Nimo, sagt mir, wie wagt Ihr es, Euch so zu erkühnen, daß Ihr den alten Narren nicht aufgehängt habt?”
Als Nimo darauf antworten wollte, achtete der König nicht auf ihn, denn er rief zwei andere Diener herbei, denen er ganz streng befahl, daß sie auf Warakir aufpassen sollten.
“Er muß doch hängen,” sagte König Karl, egal, ob es jemandem lieb oder leid sein möge.”
König Ludwig saß [inzwischen] beim Kaiser von Konstantinopel und beim Papst. Aber er konnte nicht essen vor lauter jammern, so sehr bedauerte er Warakir.
“Lieber Sohn,” sagten der Kaiser und der Papst, “quält Euch nicht so sehr. Gott wird ihn wohl behüten.”
“Liebe Herren,” antwortete Ludwig, “dann würde ich für den Rest meiner Tage froh sein.”
Während sie so redeten, trat der Dieb Grymmener in das Zelt und sah, daß König Ludwig heiße Tränen weinte. Dies betrübte ihn sehr und er sagte:
“Herr, wer hat Euch etwas getan, sagt mir das! Vermag ich es, so will ich es rächen.”
“Das will ich dir sagen,” antwortete Ludwig, “mein Vater hat Warakir gefangen und ich fürchte, er wird ihn töten.”
“Herr,” sagte Grymmener, “trauert deswegen nicht, denn ehe es Morgen sein wird, will ich Euch Warakir zurückbringen.”
“Wenn Ihr das tun könntet,” sagte Ludwig, “will ich Euch dafür hoch belohnen.”
“Ja Herr,” sagte Grymmener, “bevor ich aber zurückgekommen sein werde, will ich an die zwanzig getötet haben.”
Als der Papst dies hörte, sagte er:
Als Grymmener den Papst angehört hatte, drehte er sich sogleich um und ging den Berg rauf. Aber der Wächter auf dem Tor sah ihn gleich und rief:
“Was suchst du hier oben? Geh sofort zurück, oder ich erschieße dich.”
Als Grymmener dies vernahm, bewerkstelligte er es mit seiner [Zauber]Kunst, daß der Wächter sogleich tief einschlief. Darauf trat Grymmener weiter auf die Burg zu. Da begegneten ihm vor dem Tor zehn Bewaffnete, die er ebenfalls zum Einschlafen brachte, und ging dann weiter hinein und schaffte es mit seiner Kunst, alle, die sich in der Burg aufhielten, sogleich einschlafen zu lassen. Bald kam er in die Kammer von König Karl, wo er diesen, Nimo und Otger schlafend vorfand, und dazu viele andere Leute. Dort brannten vier Wachskerzen.
“Ach ewiger Gott,” sagte Grymmener, “wo soll ich nun Warakir suchen, denn beim allmächtigen Gott, “wenn ich ihn nicht finde, so will ich die Burg und alles, was darin ist, sogleich verbrennen.”
Damit suchte er weiter überall in der Burg nach Warakir und fand ihn zuletzt an eine Säule gebunden. Grymmener weckte ihn auf, und dieser sagte:
“Lieber Herr, habt Gnade mit mir!”
Er meinte nämlich, er sei einer, der ihn töten wolle.
“Warakir,” sagte Grymmener, “steht auf, ich will Euch mit Gottes Hilfe retten.”
“Herr,” sagte Warakir, “redet leise, damit die nicht erwachen, die in der Nähe sind, denn wenn sie erwachen, dann töten sie mich und auch Euch.”
“Kommt mit,” sagte Grymmener, wir wollen gehen und uns den König ansehen.”
“Auf meine Treue,” sagte Warakir, ich nehme nicht [ganz] Paris als Besitz, wenn ich ihn dafür ansehen muß.”
XLIX. Darauf ging Grymmener [allein] in die Kammer des Königs und hob dessen Decke auf, so daß er ihm direkt in die Augen sah.
Damit rief er Warakir herbei, aber dieser hatte Angst deswegen gehabt, daß er zum König gegangen war. Grymmener sah das Schwert von König Karl, nahm es und brachte es [später] König Ludwig. Grymmener und Warakir verließen die Burg und begegneten [bald] dem Kaiser und König Ludwig. Als König Ludwig Warakir sah, umarmte und küßte er ihn und sagte:
“Gott sei gelobt, lieber Vater, daß ich Euch wieder habe.”
Grymmener trat hervor und sagte:
“Herr, hier bringe ich das Schwert Eures Vaters.”
König Ludwig antwortete:
“Lieber Grymmener, was du mir Gutes getan hast, das will ich dir alles sehr belohnen.”
Im Heer herrschte große Freude, daß sie Warakir wieder hatten. Die auf der Burg schliefen so lange, bis es Tag wurde. Als der Wächter erwachte, sah er, daß das Tor offenstand und rief deswegen:
“Auf ihr Herren, das Tor steht offen. Wir sind verraten.” Da griff der König nach seinem Schwert, fand es aber nicht. Er sagte:
“Ihr Herren, wohin ist mein Schwert gekommen?”
“Herr,” sagte Nimo,” das weiß niemand besser als Ihr.”
Bei diesen Worten kamen die Knechte, die auf Warakir aufpassen mußten und sagten:
“Herr, Warakir ist uns entlaufen.”
“Auf meine Treue,” sagte Karl, “dann hat mir der Schalk auch mein Schwert gestohlen. Wie ist mir geschehen? Ich habe noch nie so tief geschlafen. Ihr aber habt bei meiner Treue töricht gehandelt, daß ihr den alten Narren laufen ließt. Damit rief er Nimo von Bayern und Otger von Dänemark herbei und sagte:
“Hängt mir diese zwei Kerle auf, sie haben Warakir fliehen lassen.”
Sie wurden sofort aufgehängt. Darauf sagte König Karl:
“Herr,” sagte Otger, “das will ich tun.”
Damit wappnete sich Otger und ritt hinaus. Da begegneten ihm die Männer des Kaisers und sagten:
“Ritter, Ihr entkommt uns nicht.”
Otger schwieg, zückte sein Schwert und erstach einen von ihnen. Die anderen rannten ihm alle nach, aber er entkam ihnen und ritt so lange, bis er nach Paris kam. Dort fand er ein Heer vor, das gerade bereit war und am nächsten Morgen zum König reiten wollte.
L. Otger sagte:
“Ich will zur Normandie reiten und dem Herzog sagen, daß auch er dem König zu Hilfe kommen muß.”
Damit ritt er sogleich zur Normandie und sagte dem Herzog, daß der Kaiser und König Ludwig den König [Karl] auf der Burg Hattwil belagerten. Da antwortete der Herzog:
“Mir tut es leid, daß der König seine Ehefrau verjagt hatt, denn ich habe gehört, ihr sei großes Unrecht geschehen, und sie habe einen schönen Sohn von ihm. Lieber Otger, will jetzt der König, daß ich ihm zu Hilfe komme gegen seinen eigenen Sohn, oder ist das Euer Rat? Ich will meine Leute nicht zusammenrufen, [statt dessen] will ich zu ihm reiten, ihn trösten und ihm helfen.”
“Otger sagte:
“Lieber Herr, dann bitte ich Euch, daß Ihr jedenfalls zum König reitet und ihn bittet, seine Ehefrau wieder aufzunehmen.”
“Wenn ich irgend etwas Gutes dazu leisten könnte,”sagte der Herzog, “würde ich das gerne tun.”
Damit bereitete er sich sogleich und ritt allein zum König. Die Franzosen schlugen ihr Lager eine Meile von Hattwil entfernt auf. Als das der König vernahm, freute er sich sehr darüber.
“Edler König, nehmt Eure Ehefrau wieder an, denn so weit das ganze Land ist, so findet man doch keine schönere und tugendhaftere Frau als sie.”
Als der König Nimo anhörte, begann er heftig zu weinen und sagte:
“Ach ich Armer, ich weiß nicht, was ich tun soll.”
Am Morgen als es graute, hielt der Papst die Messe und rief Ludwig, seine Mutter und ihren Vater, den Kaiser zu sich und sprach:
“Ihr Herren, es steht geschrieben, daß Gott die Demut am meisten liebt. Wenn ihr mir jetzt folgen wollt, dann wollen wir im Heer ausrufen, daß sich alle Männer bis auf ihr Hemd ausziehen sollen. So wollen wir zum König gehen, und dann müßt er ein wirklich hartes Herz haben, wenn er nicht seine Ehefrau wieder annimmt. Denn es ist völlig unangemessen, wenn ein Vater gegen seinen Sohn kämpft.”
Für diesen Rat bedankte sich der Kaiser sehr beim Papst und sagte:
“Dies scheint mir ein gutes Vorhaben zu sein.”
Sogleich ließ man es im ganzen Heer ausrufen. Als sich alle entkleidet hatten, gingen stets zwei nebeinander zum König Karl. Der Papst und seine Kardinäle schritten voran.
LII. König Karl sah die Menge auf sich zukommen und sagte:
“Welches Volk ist das. Schaut hin. Sind sie wahnsinnig?”
“Herr,” sagte Nimo, “es ist Euer Sohn König Ludwig, der zu Euch mit seinen Männern kommen will. Er möchte Euch um Gnade bitten. Mit ihm sind der Papst, der Kaiser und Eure Ehefrau.”
Da fielen die zwölf Räte auf ihre Knie und sagten:
“Edler König, nehmt Eure Ehefrau wieder an, denn es gibt keine tugendhaftere Frau als sie. Ihr ist Gewalt und Unrecht angetan worden, wie Ihr sehr gut von dem Verräter Mayrkar gehört habt.”
“Herr, laßt Euren Zorn gegen mich arme Frau, denn mir ist Gewalt und Unrecht angetan worden.”
Der König hob sie wieder auf und schlug den Mantel um sie, küßte und umarmte sie vielmals. Darüber freute sich das Volk. König Karl ging zu seinem Sohn Ludwig, umarmte und küßte ihn ebenfalls. Ludwig sah neben sich Warakir. Er sagte über ihn zu seinen Vater:
“Herr,” das ist derjenige, der meine Mutter im Wald fand, an dem Tag, als Ihr sie aus Frankreich verjagt habt. Er hat sich stets um meine Mutter gekümmert bis auf den heutigen Tag. Lieber Herr, deshalb bitte ich Euch, daß Ihr ihm verzeiht, was er gegen Euch gemacht hat.”
Der König sagte:
“Das ist möglich. Er hat wie ein tüchtiger Mann gehandelt.”
Darauf verzieh ihm der König gänzlich, und rief darauf Nimo und Otger zu sich und sagte:
“Ergreift die Verräter, die sich an mir vergangen haben, bindet jeden an einen Pferdeschwanz und schleift sie zum Galgen und hängt sie alle auf.”
Sie sagten:
“Herr, das wird geschehen.”
Damit suchten und fanden sie an die zehn von ihnen, die sie alle gut kannten. Es waren aber noch mehr, die jedoch sogleich entflohen. So wurden König Karl und seine Ehefrau miteinander versöhnt und gewannen danach einen Sohn, der Kaiser zu Rom wurde und Lohir hieß. Danach hatten sie eine Tochter, die eine Gräfin von Pontue wurde. Dann hatten sie einen Sohn namens Isenbart. Er war derjenige, der seinen Vetter König Ludwig aus allen christlichen Ländern vertrieb, wie ihr später erfahren werdet. Damit kommt das Buch ans Ende. Gott möge alle Not von uns wenden.
Hier schließt das Buch von König Karl von Frankreich und seiner Ehefrau Sibille, die wegen eines Zwergen verjagt wurde.
FRAGEN ZUM TEXT:
— Welches Schicksal erleidet die Protagonistin? Sind es typische Schicksale?
— Wird die Königin anders behandelt als die männlichen Mitglieder des Hofes?
— Von wem erhält sie Hilfe? Warum kommen diese Personen zu ihrer Hilfe?
— Wie wird Karl der Große als Persönlichkeit beurteilt?
— Welche politische Situation ergibt sich an Karls Hof?
— Welche Rolle übt der Zwerg aus?
— Welche Bedeutung besitzt Warakir?
— Inwieweit, wenn überhaupt, handelt es sich um einen “typischen” Frauenroman?
— Reflektiert Elisabeths Roman eine eigenständige weibliche Ästhetik? Wäre solch eine Frage grundsätzlich berechtigt?
— Was sagt der Roman über die politischen Verhältnisse im Spätmittelalter aus?
— Welche ethischen und moralischen Tugenden finden besondere Berücksichtigung?