This text was digitized and graciously donated to Sophie by Dr. Albrecht Classen, University of Arizona. This particular work has been extracted from Classen's Frauen in der deutschen Literaturtgeschichte; the full text is available on this site.
Vorwort
Diese sind die wahren Visionen von Gott.
Und siehe, in meinem 43. Lebensjahr sah ich, erfüllt von großer Furcht und mit zitternder Aufmerksamkeit, eine himmlische Vision. Ich sah einen großen Glanz, in dem eine Stimme vom Himmel ertönte und zu mir sagte:
“Oh du schwacher Mensch, du Asche aus Asche, du Schmutz aus Schmutz! Verkünde und schreibe, was du siehst und hörst. Aber da du so viel Angst vor dem Sprechen hast, und so einfach in deinem Verstand bist, ungelehrt im Schreiben, so sprich und schreibe diese Dinge nicht durch einen menschlichen Mund, und nicht durch menschliche Erfindungen, und nicht durch die Bedingungen menschlicher Verhältnisse, sondern so wie du sie hoch im himmlischen Raum in den Wundern Gottes siehst und hörst. Erkläre diese Dinge in solch einer Weise, daß der Hörer, der die Worte seiner Belehrungen empfängt, sie in diesen Worten erklären kann gemäß diesem Willen, dieser Vision und Belehrung.
Und wieder hörte ich die Stimme vom Himmel zu mir sagen: “Sprich also von diesen Wundern und schreibe sie auf und predige, wie dir gelehrt wurde.”
Es ereignete sich im Jahr 1141 während der Inkarnation von Gottes Sohn, Jesus Christus, als ich 42 Jahre und sieben Monate alt war, daß sich der Himmel öffnete und ein feuriges Licht von außerordentlicher Helligkeit herauskam und mein ganzes Gehirn erfüllte, mein ganzes Herz in Brand steckte und auch meine ganze Brust, nicht wie ein Brennen, sondern wie eine wärmende Flamme erfüllte, so wie die Sonne alles wärmt, was sie mit ihren Strahlen berührt. Sofort wußte ich die Bedeutung der Heiligen Schrift, nämlich die Psalmen, die Evangelien und die anderen katholischen Teile des Alten und Neuen Testaments, obwohl mir die Auslegung der Worte in ihren Texten fremd waren, und ebenso die Trennung der Silben und die Fälle und Verbformen. Aber ich besaß in mir die wunderbare Kraft und das Mysterium der geheimen und bewunderungswürdigen Visionen meiner Kindheit—d.h. seit ich fünf Jahre alt war—bis zur Gegenwart. Ich ließ aber niemanden davon wissen außer ein paar frommen Personen, die in der gleichen Art lebten wie ich. In der Zwischenzeit bis zu jenem Zeitpunkt, als es Gott in seiner Größe bekannt machen wollte, verbarg ich es still und leise. Aber die Visionen, die ich erhielt, sah ich nicht in Träumen, im Schlaf oder im Delirium, oder einfach durch die körperlichen Augen, oder durch die Ohren des äußeren Körpers, oder an versteckten Orten. Statt dessen erhielt ich diese Visionen, während ich wach war und alles im reinen Geist und mit den Augen und Ohren des inneren Wesens erfuhr, an öffentlichen Orten, wie Gott es wünschte. Wie dies passierte, ist für menschliches Fleisch [Gehirn] schwer zu verstehen.
Oh Mensch, der du diese Dinge wahrnimmst, die offenlegen sollen, was in der reinen einfachen Denkweise, nicht aber in der Unruhe der Täuschung verborgen ist, schreibe also diese Dinge auf, die du siehst und hörst.
Diese Visionen ereigneten sich und diese Worte wurden aufgeschrieben während der Herrschaft von Erzbischof Heinrich von Köln und des Königs der Römer, Konrad, und des Abts von Disibodenberg Kuno, unter Papst Eugenius.
Ich sprach und schrieb über diese Dinge nicht so, indem ich oder eine andere Person sie im Herzen erfand, sondern dadurch, daß ich sie im geheimen Mysterium Gottes hörte und sie an einem himmlischen Ort empfing.
Und erneut hörte ich eine himmlische Stimme, die zu mir sagte: Rufe laut und schreib es auf.
Erste Vision
Ich sah einen großen Berg in der Farbe von Eisen. Oben auf seiner Spitze befand sich der Eine von solch einer Herrlichkeit, die mich blendete. Auf jeder Seite von ihm befand sich ein weicher Schatten, wie ein Flügel von wunderbarer Breite und Länge. Vor ihm, am Fuß des Berges, stand ein Bildnis voller Augen auf allen Seiten, in dem ich wegen der Augen keine menschliche Form erkennen konnte. Vor diesem Bildnis stand ein anderes, ein Kind, das eine blasse Tunika [Kleidung] und weiße Schuhe trug. So viel Herrlichkeit floß von dem Einen, der auf dem Berg thronte, auf den Kopf des Kindes, daß ich ihm nicht ins Gesicht sehen konnte. Aber von dem Einen, der auf dem Berg thronte, sprangen so viele lebendige Funken, die ganz wunderbar um die Bildnisse flogen. Ich bemerkte auch viele kleine Fenster in diesem Berg, in welchen menschliche Köpfe erschienen, manche in schwachen Farben, andere weiß.
Und siehe, Er, der auf dem Berg thronte, rief mit einer starken, lauten Stimme: “Oh Mensch, der du vergänglicher Staub der Erde und Asche von Asche bist, rufe laut und verkünde so lange von dem Ursprung der reinen Rettung, bis die belehrten Menschen, die, obgleich sie den tiefsten Gehalt der Heiligen Schrift wahrnehmen, nichts davon sagen oder predigen wollen, weil sie lauwarm und träge darin sind, Gottes Gerechtigkeit zu dienen. Schließe ihnen das Tor zu den Mysterien auf, die sie, weil sie so ängstlich sind, in verborgenen und fruchtlosen Feldern verbergen. Verwandle dich durch dein mystisches Wissen in einen Brunnen des Reichtums und Überflusses, bis diejenigen, die dich bisher wegen der Sünde Evas verachteten, durch die Flut deiner Bewässerung aufgeweckt werden. Du hast nämlich deine tiefe Erkenntnis nicht von Menschen erhalten, sondern von dem hohen und erstaunlichen Ritter von hoch oben, wo die Ruhe kräftig mit starkem und glorreichem Licht unter anderen Glänzenden scheinen wird.
Erhebe dich, rufe aus und berichte, was dir durch die große Kraft von Gottes Hilfe gezeigt worden ist, denn Er, der alle Geschöpfe durch Macht und Freundlichkeit beherrscht, erfüllt diejenigen, die Ihn fürchten und Ihm mit süßer Liebe und Demut dienen, mit der Glorie der himmlischen Erleuchtung und führt diejenigen, die auf dem Weg der Gerechtigkeit beharren, zu den Freuden der Ewigen Vision.