Auszug aus der Legende vom Heiligen Gongolf, der nach vielen Jahren frommen Lebens sich verehelicht. Seine Frau wird aber von einem Pfaffen geliebt, und beide begehen schließlich einen Mordanschlag, dem Gongolf erliegt. Der Pfaffe stirbt jedoch bald nach seiner Tat, und seine Geliebte wird von Gott gemäß ihrer Sünde bestraft:
Da ich des herrlichen Märtyrers Wunder und Taten
hier zusammenfassend zu schildern versuchte,
bleibt nur noch dieses: in einfacher Rede
über die elende Hure kurz zu berichten.
Wahrlich, die Teufelin wurde, so wie sie es verdiente, 5
durch ein peinliches Wunder an dem Körperteil bestraft, mit dem sie
sich selbst schuldig gemacht hatte.
Einst als des Märtyrers Ruhm schon überallhin gedrungen war,
bis hinauf zu dem sternengeschmückten Himmelsgewölbe
und in die fernsten Winkel der festgegründeten Erde,
um dies herrliche Freudengeschenk aller Welt zu verkünden, 10
da geschah es, daß dankbar und freudig ein Frommer,
der von dem Grabe kam, wo er Zeuge vieler Wunder geworden war,
unerwartet der vorhin erwähnten Hure begegnete.
Fassungslos bleibt er stehen, erkennt sie und richtet
bittere Worte an sie, so wie sie es verdiente. 15
Voll scharfer Kritik wandte er sich an sie:
Reuen dich denn deine Listen nicht, die jämmerlichen Taten,
die du an dem heiligen Mann begangen hast,
völlig verführt von dem Rat deines lüsternen Geliebten? 20
Doch aus Mitleid verrate ich dir einen Weg zur Rettung,
folgst du sogleich dem vernünftigen Rat:
wandere noch heute, zur Buße bereit, zu dem heiligen Grabe,
wasche dich rein von den Makeln der Sünde mit reuigen Tränen.
Dort, wo die Reste des Heiligen ruhen, geschehen 25
täglich die herrlichsten Wunder und Zeichen.
Bist du zur Umkehr bereit und beweinst deine Sünden,
magst wohl auch du, so schwer deine Schuld ist, Verzeihung erlangen.”
Doch die sündige Frau, die gänzlich den Sünden ergeben war,
lehnte es ab, den tugendhaften Pfad der Sittlichkeit zu wählen, 30
unablässig jagte sie einzig nach weltlichen Genüssen,
ohne den Sinn auf die ewigen Freuden zu richten.
Somit lehnte es die Böse ab, die die Schandtat angestiftet,
jenen Worten, die Rettung versprachen, zu glauben —
ja, zog es vor, sich weltlichen Freuden hinzugeben, 35
statt ihre Hoffnung auf ewige Werte zu setzen.
Nachdem sie die wahren Worte des Mannes vernommen hatte,
da verdrehte sie wütend die blutunterlaufenen Augen,
schüttelte trotzig den Kopf und voller Ungeduld,
schrie sie ihn an mit lästerndem Hohn: 40
“Leeres Geschwätz! Was sprichst du Heuchler von Wundern,
die sich um Gongolfs Verdienste willen ereignen sollen?
Was da geschwätzt wird, ist niemals die Wahrheit!
Wunder geschehen nicht anders am Grab dieses Toten,
als die herrlichen Wunder und Zeichen, 45
die ich mit meinem gemeinen Hinterteil hervorbringe!”
Sprach es und den Worten folgte sogleich ein wunderbares Zeichen,
hörbar dem unaussprechlichen Teil ihres Körpers entfahren.
Fortan mußte sie stets solch schamlosen Ton von sich geben,
wie meine Zunge sich sträubt, ihn beim richtigen Namen zu nennen. 50
Jedesmal, wenn sie begann, ein einziges Wort nur zu sagen,
entfuhr ihr sofort auch ein übelriechendes Windchen.
Damit wurde diese Frau, die kein Schamgefühl kannte,
allen zum Spott und überall ausgelacht,
bis ans Ende ihres Lebens sollte sie 55
dieses deutlich zu hörende Merkmal ihrer eigenen Schande tragen.
FRAGEN ZUM TEXT:
— Welche Funktion besitzt hier der Körper im göttlichen Heilsplan?
— Wieso scheut sich die Dichterin nicht davor, diese derbe Komik in einen Wunderbericht zu integrieren? Was sagt uns dies über die Kulturgeschichte des 10. Jahrhunderts aus?
— Was sagt der Text über die Prostitution aus? Was denkt Hrotsvitha darüber?