This text was digitized and graciously donated to Sophie by Dr. Albrecht Classen, University of Arizona. This particular work has been extracted from Classen's Frauen in der deutschen Literaturtgeschichte; the full text is available on this site.
Prolog: Dieses Buch soll man freundlich aufnehmen, denn daraus spricht selbst Gott.
Dieses Buch sende ich jetzt sowohl den guten als auch den bösen Geistlichen als Richtlinie, denn wenn die Säulen fallen, kann das Werk nicht bestehen. Es spricht nur von mir und berichtet in lobenswürdiger Weise von meiner geheimen Erfahrung. Alle, die dieses Buch studieren wollen, müssen es neunmal lesen.
Dieses Buch heißt “Ein fließendes Licht der Gottheit”
“Ei Herr Gott, wer hat dieses Buch gemacht?” “Ich habe es aus meiner Schwäche heraus geschrieben, weil ich meine Gaben nicht für mich behalten kann.” “Ei Herr, wie soll dieses Buch allein zu deinen Ehren heißen?” “Es soll ‘Ein fließendes Licht meiner Gottheit’ heißen, das in alle Herzen derer fließt, die ohne Falschheit leben.”
I. Wie die Liebe und die Königin miteinander sprachen
Die Seele kam zur Liebe und grüßte sie tiefsinnig und sprach: “Gott grüße euch, Frau Liebe.” “Gott lohne es euch, liebe Frau Königin.” “Frau Liebe, ihr seid sehr vollkommen.” “Frau Königin, ich überrage alles.” “Frau Liebe, ihr habt viele Jahre gekämpft, ehe ihr die hohe Dreifaltigkeit [Gott Vater, Sohn und der Heilige Geist] dazu bewegt habt, sich in die demütige Jungfernschaft der Maria zu ergießen.” “Frau Königin, das ist eure Ehre und Tugend.” “Frau Liebe, jetzt seid ihr zu mir hergekommen und ihr habt mir alles genommen, was ich je hier auf Erden gewann.” “Frau Königin, ihr habt einen seligen Wechsel durchgeführt.” “Frau Liebe, ihr habt mir meine Kindheit geraubt.” “Frau Königin, dafür habe ich euch die himmlische Freiheit gegeben.” “Frau Liebe, ihr habt mir all meine Jugend genommen.” “Frau Königin, dafür habe ich euch meine heilige Tugend gegeben.” “Frau Liebe, ihr habt mir meine guten Freunde und Verwandten genommen.” “Ei Frau Königin, das ist eine lächerliche Klage.” “Frau Liebe, ihr habt mir die Welt, weltliche Ehre und allen weltlichen Reichtum genommen.” “Frau Königin, dafür will ich euch in einer Stunde mit dem heiligen Geist ganz nach eurem Willen auf der Erde entschädigen.” “Frau Liebe, ihr habt mich so sehr bedrängt, daß ich sehr krank geworden bin.” “Frau Königin, dafür habe ich euch viel größeres Wissen gegeben.” “Frau Liebe, Ihr habt mein Fleisch und mein Blut verzehrt.” “Frau Königin, dadurch seit ihr gereinigt und zu Gott gebracht worden.” “Frau Liebe, ihr seid eine Räuberin, dafür müßt ihr mich entschädigen.” “Frau Königin, nehmt mich dafür an.” “Frau Liebe, nun habt ihr mir hier auf Erden hundertfach Entschädigung gegeben.” “Frau Königin, ihr müßt jetzt noch nach Gott und all seinem Reichtum fordern.”
II. Von drei Personen und drei Gaben.
Der wahre Gruß Gottes kommt aus den himmlischen Fluten aus dem Brunnen der fließenden Dreifaltigkeit. Er hat solch eine große Kraft, daß er dem Körper alle seine Kraft nimmt und die Seele sich selbst bewußt macht, daß sie sich gleich wie die Heiligen erkennt und dann den göttlichen Schein empfängt. Dann trennt sich die Seele von dem Körper und nimmt mit sich alle Kraft, Weisheit, Liebe und Sehnsucht. Nur der kleinste Teil des Lebens bleibt dem Körper wie in einem süßen Schlaf. Da sieht sie einen ganzen Gott in drei Personen und erkennt die drei Personen als ungeteilt in einem Gott. Er grüßt sie in höfischer Sprache, die man in der Küche niemals vernimmt, und kleidet sie mit Kleidern, die man im Palast tragen soll, und begibt sich in ihre Macht. Nun kann sie darum bitten und danach fragen, was sie will, alles wird ihr erfüllt und berichtet. Die Ursache, warum sie nicht alles erfährt, liegt an der ersten Sache der Trinität. Darauf zieht er sie an einen geheimen Ort, wo sie nach nichts bitten oder fragen darf, denn er will mit ihr allein ein Spiel spielen, das weder der Körper noch die Bauern bei dem Pflug noch die Ritter beim Turnier noch seine liebliche Mutter Maria kennen. Hierbei darf sie nicht eingreifen. So schweben sie weiter zu einem herrlichen Ort, von dem ich nicht erzählen will oder darf. Es ist zu gefährlich, ich wage es nicht, denn ich bin ein sehr sündiger Mensch. Weiter, wenn der endlose Gott die grundlose Seele in die Höhe bringt, verliert sie wegen dieses Wunders die Erde aus der Sicht und weiß nichts mehr davon, daß sie je auf der Erde war. Wenn das Spiel am schönsten läuft, muß man es unterbrechen. Da spricht der blühende Gott: “Jungfrau, ihr müßt euch neigen.” Sie erschrickt darauf, beweint ihre Not und sagt: “Herr, nun hast du mich so weit weg gebracht, daß ich dich selbst auf Befehl hin in keiner Weise mehr loben kann. Statt dessen liege ich hier elendiglich und kämpfe gegen meinen Körper.” “Er antwortet daraufhin: “Ei du liebe Taube, deine Stimme ist wie der Klang von einem Seiteninstrument in meinen Ohren, deine Worte sind wie Wurzeln [süße Speise] in meinem Mund, deine Sehnsucht ist die Mildtätigkeit meiner Gabe.” Darauf sagt sie: “Lieber Herr, es muß so sein, wie der Wirt befiehlt.” Darauf erseufzt sie so tief, daß der Körper erwacht und spricht: “Ei Frau, wo bist du jetzt gewesen? Du kommst so liebreich zurück, schön und kräftig, frei und verständig. Deine Umwandlung hat mir meinen Geschmacks- und Geruchssinn, meine Farbe und all meine Kraft genommen.” Darauf antwortet sie: “Schweig, Mörder, unterlaß deine Klagen! Ich will mich immer vor dir hüten. Ich freue mich, daß meine Feinde verwundet sind, es schadet uns nicht.”
Das ist ein Gruß, der viele Adern hat, der aus dem fließenden Gott in die Arme dringt, der die Seele jederzeit mit neuer Kenntnis und neuer Anschauung anfüllt und ihr zeigt, wie die neue Gegenwärtigkeit gebraucht werden kann. Ei süßer Gott, du brennst innerlich und blühst äußerlich; nun da du es dem Geringsten gegeben hast, konnte ich noch das Leben erfahren, das du den Würdigsten gegeben hast. Deswegen möchte ich noch etwas länger ausdauern. Niemand will oder kann diesen Gruß erhalten, der nicht überwunden und zunichte geworden ist. In diesem Gruß will ich lebendig sterben, wovon mich die blinden Heiligen niemals abhalten sollen, die da lieben und doch nichts wissen.
III. Von den Mägden der Seele und vom Schlag der Liebe
Alle heiligen christlichen Tugenden sind die Mägde der Seele. Die Stimme der süßen Seele klagt der Liebe seine Not: “Ei allerliebste Jungfrau, nun bist du lange meine Kammerdienerin gewesen, nun sage mir, wie soll ich ohne dich leben? Du hast mich gejagt, gefangen, gefesselt und so tief verwundet, daß ich niemals mehr gesund werde. Du hast mir viele Keulenschläge gegeben, sage mir, werde ich bald ohne dich gesund werden? Wenn ich jetzt von dir getötet werden würde, wäre es mir lieber, daß ich dich nie gekannt hätte.” Die Liebe: “Ich hatte Freude daran, dich zu jagen; ich wollte dich fangen; ich freute mich, als ich dich fesselte; als ich dich verwundete, wurdest du mit mir vereinigt; wenn ich dir Keulenschläge gebe, gewinne ich über dich Gewalt. Ich habe den allmächtigen Gott gezwungen, sich aus dem Himmelsreich zu begeben, ihm sein menschliches Leben wieder genommen und ihn in Ehren seinem Vater zurückgegeben; wie glaubst du denn, du elender Wurm, du könntest ohne mich wieder gesund werden?” Die Seele: “Sprich, meine Kaiserin, ich fürchte, daß ich durch eine geheime Arznei, die mir Gott oft gegeben hat, mich von dir befreien könnte.” Die Liebe: “Wenn man die Gefangenen nicht tot haben will, so gibt man ihnen Wasser und Brot. Die Arznei, die dir Gott oftmals gegeben hat, ist nichts anderes als ein kurzer Aufschub in diesem menschlichen Leben. Wenn aber dein Auferstehungstag kommt und dein Körper den tödlichen Schlag empfängt, so will ich dich ganz umfangen, dich ganz durchdringen, deinem Körper stehlen und dich deinem Geliebten geben.” Die Seele: “Oh Liebe, diesen Brief habe ich nach den Worten aus deinem Mund geschrieben, nun gib mir, Herrin, deinen Siegel.” Die Liebe: “Wer jemals Gott lieber als sich selbst gewann, der weiß wohl, woher er das Siegel nehmen soll, es liegt zwischen uns zwein.” Die Seele sagt: “Schweige, Geliebte, und sag nichts mehr, es verneigen sich vor dir, allerliebste Jungfrau, alle Geschöpfe und ich. Sage meinem Geliebten, daß sein Bett bereit ist und daß ich liebeskrank nach ihm sei.” Wenn dieser Brief zu lang braucht, dann liegt das daran, daß ich auf der Wiese war, wo ich allerlei Blumen fand. Dies ist eine süße jammervolle Klage: wer aus Liebe stirbt, den soll man in Gott begraben.
IV. Von der Hofreise der Seele, in der sich Gott selbst zeigt
Wenn die arme Seele an den Hof kommt, so ist sie klug und gut erzogen und schaut fröhlich zu Gott hin. Ei, wie freundlich wird sie da empfangen! Da schweigt sie und verlangt unendlich viel Lob von ihm. Deswegen beweist er ihr mit großer Sehnsucht sein göttliches Herz, das ganz wie rotes Gold aussieht, das in einem großen Kohlefeuer brennt. So setzt er sie in sein glühendes Herz. Wenn sich dann der hohe Fürst und die kleine Jungfrau so umarmen und wie Wasser und Wein miteinander verbunden sind, wird sie zu einem Nichts und löst sich von sich selbst. Wenn sie nicht mehr kann, wird er, wie er schon vorher war, liebeskrank nach ihr, denn ihm ist es niemals genug. Darauf sagt sie: “Herr, du bist mein Bräutigam, mein Verlangen, mein fließender Brunnen, meine Sonne, und ich bin dein Spiegel.” Dies ist die Hofreise der liebenden Seele, die nicht ohne Gott sein kann.
V. Von der Qual und der Not der Seele
Mein Körper erleidet lange Qual, meine Seele ist mit großer Freude erfüllt, denn sie hat ihren Geliebten immer wieder erblickt und mit Armen umfaßt. Von ihm hat sie die Qual, die Arme. Wenn er sie anzieht, so fließt sie; sie kann davon nicht Abstand nehmen, bis er sie in sich selbst hineinbringt. Wenn sie gerne sprechen möchte, kann sie es nicht. Somit ist sie in großer Eintracht ganz mit der herrlichen Dreifaltigkeit verbunden. Er läßt sie ein wenig los, daß sie sich ausruhen kann. Sie sehnt sich so sehr nach seinem Lob, daß sie ihren Willen verliert. Ja, sie wünscht, daß er sie zur Hölle sendet, wofür ihn alle Kreaturen über alle Maßen loben würden. Sie spricht ihn an und sagt zu ihm: “Herr, gib mir deinen Segen.” Darauf sieht er sie an, zieht sie wieder an sich und grüßt sie, wie der Körper selber niemals grüßen darf. Darauf spricht der Körper zur Seele: “Wo bist du gewesen? Ich will nicht mehr.” Antwortet die Seele: “Schweig, du bist ein Tor. Ich will bei meinem Geliebten sein, selbst wenn du niemals mehr gesund werden solltest. Ich bin seine Freude, er ist meine Qual.” Dies ist ihr Leiden, von dem sie niemals mehr befreit werden wird! Diese Qual muß dich erfüllen, niemals darfst du ihr entgehen!
VII. Gottes achtfacher Eid
Ich schwöre dir: dein Körper muß sterben, deine Worte müssen vergehen, deine Augen müssen sich schließen, dein Herz muß fließen, deine Seele muß steigen, dein Körper muß zurückbleiben, deine menschlichen Sinne müssen vergehen, dein Geist muß vor der heiligen Dreifaltigkeit stehen!
X. Wer Gott liebt, der sieht drei Dinge
Welcher Mensch die Welt besiegt und seinem Körper allen nutzlosen Willen nimmt, und den Teufel besiegt, das ist dann die Seele, die Gott liebt. Wenn die Welt ihr einen Stoß gibt, erleidet sie davon keinen Schmerz. Wenn sie das Fleisch angreift, wird der Geist davon nicht krank; schaut sie der Teufel an, kümmert dies die Seele nicht. Sie liebt und sie liebt und kann nichts anderes vollbringen.
XIII. Wie Gott in die Seele kommt
Ich komme zu meiner Geliebten wie der Tau auf die Blumen.
XIV. Wie die Seele Gott empfängt und lobt
Ei, welch fröhlicher Anblick! Ei welch lieber Gruß! Ei welch liebevolle Umarmung! Herr, dein Wunder hat mich verwundet, deine Gnade hat mich erdrückt. Oh du hoher Stein, du bist so gut ausgehöhlt, daß niemand außer Tauben und Nachtigallen in dir nisten kann!
XXIX. Von der Schönheit des Bräutigams und wie ihm die Braut
in 23 Stufen des Kreuzes folgen soll.
Siehe mich an, meine Braut! Sieh, wie schön meine Augen sind, wie wohlgeformt mein Mund, wie feurig mein Herz ist, wie feingliedrig meine Hände, wie schnell meine Füße sind. Dann folge mir! Du sollst mit mir gemartert werden, durch Neid verraten, wegen Hinterlist gesucht, im Haß gefangen, in Gehorsam gebunden werden. Deine Augen sollen verbunden werden, weil man dir die Wahrheit verheimlichen will. Du sollst vom Zorn der Welt geschlagen, wegen deines Bekenntnisses vors Gericht gebracht, mit der Buße geohrfeigt, mit Spott vor Herodes gesandt, mit der Not bekleidet, mit der Armut gegeiselt, mit der Bekehrung gekrönt, mit Verzagtheit angespuckt werden; du sollst dein Kreuz im Haß der Sünden tragen, mit der Verzeihung aller Dinge nach deinem Willen gekreuzigt, mit den heiligen Tugenden an das Kreuz genagelt, von der Liebe verwundet, am Kreuz in heiliger Bewährung, in dein Herz mit immerwährender Vereinigung gestochen, vom Kreuz abgenommen werden im wahrem Sieg über alle deine Feinde, in der Unbedeutendheit begraben werden, von dem Tode in heiliger Form wieder auferstehen und in einem Atemstoß Gottes angezogen in den Himmel fahren.
XLIV. Sieben Dinge von der Liebe, von drei Brautkleidern und vom
Tanzen
“Ei liebende Seele, willst du wissen, wie dein Weg beschaffen ist?” “Ja, lieber heiliger Geist, lehre es mich.” “Wenn du die Qual der Reue und den Schmerz der Beichte und die Mühe der Buße und die Liebe zur Welt und die Verführung des Teufels und den Überfluß des Fleisches und den verfluchten eigenen Willen, der viele Seelen so sehr zurückzieht, daß sie niemals mehr zur wahren Liebe gelangen, und wenn du so alle deine größten Feinde niedergeschlagen hast, dann bist du so müde, daß du sagst: “Schöner Jüngling, mich verlangt nach dir, wo kann ich dich finden?” Darauf antwortet der Jüngling: “Ich höre eine Stimme, die etwas von Liebe verkündet. Ich habe viele Tage um sie geworben, und doch gewann ich nie diese Stimme. Nun bin ich getroffen, ich muß ihr entgegen gehen! Sie ist es, die sowohl Schmerz und Liebe zusammen trägt.” Am Morgen im süßen Tau ist es die geschlossene Innigkeit, die als erstes in die Seele geht. Ihre fünf Kammerdiener, die ihre fünf Sinne sind, sagen: “Herrin, bekleidet euch.”
“Liebe, wohin soll ich?” “Wir haben das Gerücht vernommen, der Prinz will euch im Tau und schönen Vogelgesang entgegenkommen. Ei Frau, nun zögert nicht lange!” Sie zieht ein Hemd der sanften Demütigkeit an, und das ist so demütig, daß sie darunter nicht zu leiden braucht; darüber ein weißes Hemd der reinen Keuschheit, das so rein ist, daß sie weder Worte noch Berührungen, die sie beflecken könnten, dulden muß. Darauf zieht sie einen Mantel des heiligen Geruchs an, den sie mit allen Tugenden vergoldet hat. So geht sie in den Wald der Gesellschaft heiliger Menschen, wo die allerschönste Nachtigall die sanfte Einigung mit Gott Tag und Nacht besingt. Außerdem hört sie viele andere süße Vogelstimmen der heiligen Anerkennung. Noch aber ist der Jüngling nicht gekommen. Nun sendet sie Boten aus, denn sie will tanzen. Sie schickt nach der Anerkennung des Abrahams und dem Verlangen der Propheten und der keuschen Demut unserer Jungfrau Maria und nach all den heiligen Tugenden unseres Herrn Jesu Christi und nach all den Tugenden seiner Auserwählten. Daraus wird ein schöner Tanz zum Lobe. Dann kommt der Jüngling und spricht zu ihr: “Jungfrau, ihr sollt so tugendhaft nachtanzen, wie euch meine Auserwählten vorgetanzt haben.” Sie sagt: “Ich will nicht tanzen, Herr, es sei denn, du führest mich. Willst du, daß ich sehr springe, so mußt du selber vorspringen; dann springe ich in die Liebe hinein. Von der Liebe springe ich in die Anerkennung, von der Anerkennung in das tätige Leben, ein tätiges Leben, das über allen menschlichen Sinnen steht. Dort will ich bleiben und will dennoch weiterhin kriechen.” Darauf muß der Jüngling so singen: “Durch mich in dich und durch dich von mir.” “Gerne mit dir, notwendigerweise von dir!” Dann sagt der Jüngling: “Jungfrau, dieser Lobtanz ist euch gut gelungen, ihr werdet euren Willen mit dem Sohn der Jungfrau erfüllt bekommen, denn ihr seid nun von der Liebe erschöpft. Kommt am Mittag zu dem Schatten am Brunnen in das Bett der Liebe, da sollt ihr euch mit ihm kühlen.” Darauf sagt die Jungfrau: “Oh Herr, das ist wunderbar, daß sie deine Liebesgenossin ist, die selbst keine eigene Liebe besitzt, wenn sie nicht von dir bewegt wird.” Dann spricht die Seele zu den Sinnen, die ihre Kammerdiener sind: “Nun bin ich für eine Weile des Tanzens müde, geht von mir, ich muß dorthin gehen, wo ich mich abkühlen kann.” Die Sinne sagen zu der Seele: “Herrin, wollt ihr euch in den Liebestränen der heiligen Maria Magdalena kühlen, damit wird es euch genug sein.” Die Seele: “Schweigt ihr Herren, ihr versteht nicht alles, was ich meine! Behindert mich nicht, ich will eine Weile unverdünnten Wein trinken.” Herrin, in der Keuschheit der Jungfrauen ist die große Liebe bereitet.” Das mag wohl sein, das ist aber nicht das Beste an mir.” “Im Blut der Märtyrer könnt ihr euch gut kühlen.” Ich bin so viele Tage gefoltert worden, daß ich jetzt dorthin nicht gehen will.” Im Rat der Beichtväter wohnen gerne die reinen Menschen.” “Im Rat will ich immer bleiben und danach tun und lassen, doch will ich jetzt nicht dorthin gehen.” “In der Weisheit der Aposteln findet ihr große Sicherheit.” “Ich habe die Weisheit bei mir, damit will ich immer am besten wählen.” “Herrin, die Engel sind hell und schön in der Liebesfarbe; wenn ihr euch kühlen wollt, so begebt euch dorthin.” “Die Freude der Engel bereitet mir Schmerzen, wenn ich ihren Herrn und meinen Bräutigam nicht ansehen kann.” So kühlt euch in dem heiligen harten Leben, das Gott Johann dem Täufer gegeben hat.” “Zum Schmerz bin ich bereit, doch übersteigt die Kraft der Liebe alle Mühen.” “Herrin, wenn ihr euch in der Liebe kühlen wollt, so neigt euch in den Schoß der Jungfrau zu dem kleinen Kind und seht und schmeckt, wie die Freude der Engel von der ewigen Jungfrau die übernatürliche Milch sog.” “Das ist eine kindliche Liebe, daß man Kinder säugt und wiegt. Ich bin eine voll gewachsene Braut, ich will zu meinem Bräutigam gehen.” “Oh Herrin, wenn du dorthin kommst, müssen wir ganz erblinden, denn die Gottheit ist so feuerheiß, wie du selbst gut weißt, da alles Feuer und all die Glut, die den Himmel und alle Heiligen erhellen und brennen lassen, aus seinem göttlichen Atem und aus seinem menschlichen Munde aus dem Rat des heiligen Geistes geflossen sind. Wie kannst du es da überhaupt für eine Stunde aushalten?” “Der Fisch kann in dem Wasser nicht ertrinken, der Vogel kann in der Luft nicht absinken, das Gold kann nicht in dem Feuer verderben, denn es empfindet dort seine Klarheit und seine leuchtende Farbe. Gott hat allen Geschöpfen gegeben, daß sie nach ihrer Natur handeln; wie kann ich denn meiner Natur widerstehen? Ich müßte von allen Dingen weg zu Gott gehen, der von Natur aus mein Vater, wegen seiner Menschlichkeit mein Bruder, wegen der Liebe mein Bräutigam ist und ich schon immer seine Braut bin. Meint ihr, daß ich ihn nicht richtig fühle? Er kann sowohl stark brennen und tröstlich kühlen. Nun betrübt euch nicht zu sehr! Ihr sollt mir (später) noch Rat geben; wenn ich zurückkehre, brauche ich sehr eure Lehre, denn diese Erde ist voll mit vielen Fallen.” Dann geht die Allerliebste zu dem Allerschönsten in der verborgenen Kammer der sündenfreien Gottheit. Dort findet sie das Liebesbett und das Liebesgewand von Gott ganz anders als bei den Menschen vorbereitet. Unser Herr spricht: “Bleibt stehen, Frau Seele!” “Was befiehlst du, Herr?” “Ihr sollt euch ausziehen!” “Herr, was wird mit mir geschehen?” “Frau Seele, ihr seid so sehr ein Teil meiner Natur, daß zwischen euch und mir nichts sein kann. Noch nie gab es einen so herrlichen Engel, dem eine Stunde gewährt wurde, was euch auf ewiglich gegeben ist. Deswegen sollt ihr sowohl Furcht als auch Scham und äußerliche Tugenden beiseite tun; ihr sollt nur diejenigen ewiglich pflegen, die ihr von Natur innen besitzt, nämlich: euer adliges Verlangen und eure unerschöpfliche Begierde. Die will ich auf ewig mit meiner endlosen Milde befriedigen.” “Herr, jetzt bin ich eine nackte Seele und du in dir selbst ein schön geschmückter Gott. Unsere Gemeinschaft ist die ewige Liebe ohne Ende.” Dann stellt sich nach ihrem Wunsche eine selige Stille ein. Er gibt sich ihr und sie gibt sich ihm hin. Nur sie weiß, was mit ihr geschehen mag, und das tröstet mich. Dies kann nicht lange so dauern; wenn zwei Verliebte verborgen zusammen sind, müssen sie sich oftmals voneinander wieder trennen, ohne sich wirklich zu trennen. Lieber Freund in Gott, diesen Liebesweg habe ich dir beschrieben, möge ihn dir Gott ans Herz legen! Amen.
BUCH II
XXVI. Von diesem Buch und den Schreibern dieses Buches
Ich wurde vor diesem Buch gewarnt, denn Menschen sagten mir: Man sollte sich nicht darum kümmern, ein Brand könnte daraus entstehen. Da machte ich es, wie ich es von Kindheit an getan habe; wenn ich jemals betrübt war, mußte ich immer beten. Ich neigte mich vor meinem Geliebten und sprach: “Ei Herr, jetzt bin ich wegen deiner Ehre traurig; wenn ich nun von dir ungetröstet bleibe, hast du mich verleitet, denn du hast es selbst mir aufgetragen, das Buch zu schreiben.” Da offenbarte sich sogleich Gott meiner traurigen Seele, hielt dieses Buch in seiner rechten Hand und sagte: “Meine Liebe, betrübe dich nicht zu sehr, die Wahrheit kann niemanden verbrennen. Wer es aus meiner Hand nehmen will, der muß stärker als ich sein. Das Buch ist dreifaltig und bezeichnet nur mich allein. Dieses Pergament darin bedeutet mein reines, weißes, gerechtes Menschsein, das für [Christus] den Tod erlitt. Die Worte bedeuten meine wunderbare Gottheit; sie fließen von Stunde zu Stunde aus meinem göttlichen Mund in deine Seele. Der Klang der Worte bedeutet meinen lebendigen Geist und erfüllt durch sich selbst die ganze Wahrheit. Nun sieh dir alle diese Worte an, wie herrlich sie mein Geheimnis verkünden. Zweifel nicht an dir selber!”
“Ei Herr, wäre ich ein gelehrter geistlicher Mann, und hättest du dieses einzigartige Wunder an ihm vollbracht, so würdest du seine Verehrung empfangen. Wie kann man dir trauen, da du ein goldenes Haus im schmutzigen Dreck gebaut hast und wohnst herrlich darin mit deiner Mutter und mit allen Geschöpfen und all deinen himmlischen Dienern? Herr, dort vermag dich die weltliche Weisheit nicht finden.”
“Tochter, so mancher weise Mann hat sein wertvolles Gold wegen Unachtsamkeit auf der großen Straße verloren, auf der er geradewegs zur Universität fahren wollte; jemand muß dieses finden. Ich habe dies wegen meiner Natur seit vielen Tagen getan; immer wenn ich besondere Gnade verschenkte, da suchte ich bei den Niedrigsten und Geringsten geheime Zuflucht. Die höchsten Berge der Erde können nicht die Offenbarung meiner Gnade empfangen, denn die Flut meines heiligen Geistes fließt von Natur aus ins Tal. Man findet so manchen weisen Schriftgelehrten, der vor meinen Augen ein Tor ist. Weiter sage ich dir: es gereicht mir zur großen Ehre und stärkt die heilige Christenheit außerordentlich, daß der ungelehrte Mund die gelehrten Zungen über meinen heiligen Geist belehrt.”
“Ei Herr, ich seufze und verlange und bitte um deine Schreiber, die das Buch für mich geschrieben haben, auf daß du ihnen auch diejenige Gnade zu Lohne gibst, die noch keinem Menschen gegeben worden ist; denn Herr, deine Gabe gilt tausendmal mehr als deine Geschöpfe, die sie empfangen.” Da sprach unser Herr: “Sie haben es mit goldenen Buchstaben geschrieben, also sollen alle diese Worte des Buches auf dem obersten Teil ihrer Kleidung eingetragen sein, auf ewig in meinem Reich mit himmlisch leuchtendem Gold sichtbar wegen all ihres Schmuckes geschrieben werden, denn die freie Liebe muß immer das Höchste am Menschen sein.”
Während mir unser Herr diese Worte sagte, da sah ich die herrliche Wahrheit in der ewigen Würde. Ei Herr, ich bitte dich, daß du dieses Buch vor den Augen der Falschheit bewahrst, denn sie ist aus der Hölle zu uns gekommen; sie wurde niemals aus dem Himmel gebracht; sie ist in Luzifers Herzen geboren und ist im geistigen Hochmut erzeugt, im Haß erzogen und in dem gewaltigen Zorn so groß geworden, daß sie meint, keine Tugend könne ihr Freund sein. So müssen die Kinder Gottes untergehen und sich von der Niedrigkeit unterdrücken lassen, wenn sie die höchste Ehre mit Jesus empfangen wollen. Eine heilige Farbe müssen wir zu aller Zeit auf uns selber tragen, daß wir uns vor Schwäche bewahren. Ein liebreiches Verhalten sollen wir unseren christlichen Nachbarn zeigen. Wenn sie etwas falsch machen und wir es ihnen nur getreulich sagen, so können wir viele unnütze Reden ersparen. Amen.
Buch IV.
XIII. Die Schrift dieses Buches wird von allen Gliedern gesehen,
gehört und erkannt
Ich kann und will nicht schreiben. Ich sehe mit den Augen meiner Seele und höre mit den Ohren meines ewigen Geistes und nehme mit allen Gliedern meines Körpers die Kraft des heiligen Geistes wahr.
XXVIII. Von der fünferlei Kraft der Liebe.
Wegen der Krankheit der Menschen und der Falschheit der Welt
muß man die Wahrheit verschweigen
Dieses Buch wurde in Liebe begonnen, es soll auch in Liebe enden, denn es ist nichts so weise noch so heilig noch so schön noch so stark oder so vollkommen wie die Liebe. Da sprach unser Herr Jesu Christ: “Sprich, Vater, ich will nun ebenso schweigen wie du in dem Mund deines Sohnes laut murmelst wegen der Krankheit der Leute, und so sprechen, wie meine Menschheit zitternd sprach wegen der Falschheit der Welt, denn sie belohnte mich mit dem bitteren Tod.”
FRAGEN ZUM TEXT:
— Was für eine Beziehung besteht zwischen Mensch und Gott?
— Wie vermag sich der Mensch/die Seele Gott zu nähern?
— Welche religiösen Erfahrungen reflektiert Mechthild?
— Aus welchen Bereichen schöpft die Dichterin ihre Bilder und Sprache?
— Welchen Eindruck gewinnen wir aus diesen Visionen hinsichtlich der Ausdrucksmächtigkeit von Frauen im deutschen Mittelalter?
— Welche sprachlichen Mittel werden von Mechthild eingesetzt?
— Was macht den literarischen Charakter von Mechthilds Visionen aus?