Hier folgt Hrotsvitha teilweise der klassisch–rhetorischen Tradition mit ihren Demutsformeln, teilweise gibt sie aber zu erkennen, wie stolz sie auf ihre Leistungen als Dichterin ist (285f.)
Vorrede
Gerberg, der erlauchten Äbtissin, der wir wegen ihrer hervorragenden edlen Gesinnung nicht weniger Ergebenheit schulden als wegen ihrer königlichen Herkunft und Vornehmheit, entbietet Hrotsvitha aus Gandersheim ganz bescheiden als letzte der letzten, die unter dieser Oberhoheit streiten, was die Dienerin der Gebieterin schuldet.
O meine Herrin, der Glanz der vielfältigen Weisheit Eures Geistes strahlt weit! Möge es Euer Gnaden nicht verdrießen durchzusehen, was, wie Ihr wißt, auf Euer Geheiß ist geschehen.
Ihr trugt mir auf, des Kaisers Lebensgeschichte, über die ich nichts durch Hörensagen in Erfahrung zu bringen vermochte, in ein Gedicht zu fassen. Ich vergoß dabei viel Schweiß; welche Schwierigkeiten sich meiner Unwissenheit entgegenstellten, ist Euch nicht unbekannt, wie ich weiß. Mir standen nämlich weder alte Chroniken zur Verfügung noch gab mir jemand genaue mündliche Kunde.
1. Prolog
Mächtiger Herr und Kaiser, gekröntes Haupt unseres Reiches,
Otto, vom ewigen König zur Herrschaft berufen,
regiert Ihr ruhmreich im Glanze von Krone und Zepter,
Ihr übertrefft alle früheren Kaiser an frommer Gesinnung,
und das Römische Weltreich beschenkt Euch mit vielerlei Gaben!
Mögt Ihr dies kleine Geschenk, mein Gedicht, nicht verschmähen,
möge dies Lob, der Euch zustehende Tribut, Euch gefallen,
den Euch die Geringste aus jener Schar darbringt, die in Gandersheim lebt,
die die fromme Absicht Eurer Vorfahren dort zusammenbrachte 10
und die seither Euch jederzeit Verehrung. entgegenbringt.
Möglich, daß manche den Ruhmesglanz Eurer Taten bereits geschildert haben,
viele werden ihn noch in Zukunft beschreiben,
doch hat mir keiner zu dieser Arbeit ein Vorbild geliefert,
auch boten mir früher verfaßte Bücher keine Belehrung. 15
Mich hat allein meine Ehrfurcht dazu gebracht, ein Werk
in Angriff zu nehmen, vor dem ich Angst hatte.
Freilich, ich fürchte, indem ich ein Gedicht von Euren Taten schuf,
ich vielleicht unbedacht Falsches sagte und das Wahre verfehlte;
nicht Vermessenheit hat mich etwa verleitet, 20
freiwillig habe ich niemals die reine Wahrheit verfälscht.
Alles sei genau so verlaufen, wie ich es hier melde,
so versicherten sie, die mir den Stoff zu der Niederschrift brachten.
Möge daher nicht des Kaisers erhabene Güte verschmähen,
was bescheidener Sinn und tiefe Ergebenheit bringen. 25
Wenn Euch in Zukunft noch zahlreiche Schriften lobpreisen,
die, nach der meinen verfaßt, Euch auch gefallen werden,
möge dies Büchlein dann nicht das Geringste im Rang sein,
ist es doch als erstes und ganz ohne Vorbild entstanden.
Habt Ihr auch jetzt die Würde des Römischen Kaisers inne, 30
mögt Ihr gnädig erlauben, daß ich Euch noch “König” nenne,
denn ich beschreibe zunächst nur die Taten des Königs,
bis dann in richtiger Ordnung und würdiger Sprache
eine Beschreibung der zweiten Krönung folge—der Krönung zum Kaiser.
FRAGEN ZUM TEXT:
— Welche Beziehung besteht zwischen Hrotsvitha und dem Kaiser?
— Welche öffentliche Funktion gewinnt sie durch dieses Loblied?
— Wie beurteilt sich Hrotsvitha selbst als Chronistin?
— Welche Topoi (feste Redeformeln) setzt sie ein, um die poetische Qualität ihres Gedichts ins beste Licht zu rücken?
—Was sagt Hrotsvitha über ihre Quellen aus?