(For a digital copy of the article as it appeared in the Neue Freie Presse on 11 October 1924, click here. Below is a transcription of the article.)
In der Kollektion Manz, die bereits eine Reihe neuer Ausgaben französischer Meisterwerke aufweist, erschien vor kurzem ein Band von einigen hundert Seiten, betitelt: "Les Chefs-d'oeuvre de Madame de La Fayette." Er enthält die drei lebenskräftigsten Schriften dieser aus der hohen Schule der Preziösen hervorgegangenen, in ihrer heimat berühmten Pariserin. Das Dreiblatt für literarische Feinschmecker besteht aus der Erzählung "La Princesse de Clèves" und den beiden historischen Darstellungen "Henriette d'Angleterre" und "Mémoires de la cour de France". Ein Abglanz vom Strahlenkranze des Sonnenkönigs schimmert in diesen Schilderungen aus weit entfernter Zeit, die von den Franzosen ihr großes Jahrhundert genannt wird. War es doch die Epoche, in der aus den Wirren des Bürgerkrieges, der Fronde, die unerhörte Glorie des Alleinherrschers Louis XIV aufstieg. Eine Karikatur charakterisierte die Höhe seiner Macht durch eine Hand, die sich aus einer Wolke streckte und an jedem Finger eine Marionette in der Tracht eines souveränen Fürsten tanzen ließ. Es war die Zeit, in der Racine die Tränen Andromaches mit schmeichelndem Wohllaut besang und Phädras Raserei harmonisch wiedergab, in der Molière die vollendetste Kokette seinem unsterblichen Menschenfeind gegenüberstellte und hervorragende Herolde alleinseligmachenden Glaubens wie Bossuet ihre gepflegte Rhetorik dem Dienst der Kirche weihten. Wohl war solcher Triumph der Macht und der Kunst mit dem Ruin des arbeitenden Volkes erkauft, wohl waren seine Grundlagen nicht von Dauer, aber sehr wenige fragten danach. Die Pracht der Treibhauskultur des großen Jahrhunderts weckte die Bewunderung Europas.
Eine köstliche Zierpflanze in dem bunten Strauß vornehmer Höflinge, die den schimmernden Thron huldigend umgaben, war auch Marie Madeleine Gräfin La Fayette. Sie gilt als Reformatorin französischen Schrifttums. Die überspitzten Subtilitäten des Hôtel de Rambouillet -- des Seminars der Preziösen, dem eine geborne Italienerin, Gemahlin Karls von Argennes, Marquis de Rambouillet, vorstand -- die Ueberfeinheit der Form und den hochtrabenden Stil ersetzte Maria La Fayette durch eine viel schlichtere, zuweilen sogar etwas linkische, wenn auch gefeilte Ausdrucksweise. Ihre Memoiren vom französischen Hofe aus den Jahren 1688 und 1689 sind interessante Kleinmalereien. Großes Geschehen erscheint darin wie in Miniaturausgabe. Ein weltbewegendes Ereignis wie die Flucht Jakobs II, des letzten gekrönten Stuart, aus seinem Königreich klingt in Streitigkeiten über das Zeremoniell aus, das den Aufenthalt der britischen Majestäten in Saint-Germain regeln sollte. Neben einer langen Reihe militärischer Details aus den Kriegen des "Großen Königs" wird auch die Zerstörung Heidelbergs erwähnt. Die Verfasserin kennzeichnet knapp und vorsichtig "Exzesse, die ein mit geringerer Nachsucht geführter Feldzug vermieden hätte". Die gleiche Zurückhaltung bei unverkennbar klavem Urteil bewahrt
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Madame de La Fayette, wenn sie von den verfolgten Protestanten spricht, den "gewaltsam Bekehrten, die nicht den Mut hatten, das Königreich zu verlassen, noch den Willen, Katholiken zu sein".
Wärmer, lebendiger ist er Ton des zweiten historischen Fragments, "Henriette d'Angleterre". Seine Heldin, die liebenswürdige und geistig rege Tochter Karls I, des enthaupteten Königs von England, war in einem französischen Kloster aufgewachsen und hatte dort mit der um zehn Jahre älteren Gräfin La Fayette Freundschaft geschlossen. Das Bündnis blieb erhalten, als die englische Prinzessin durch ihre Heirat mit dem Herzog von Orleans, Ludwigs XIV. einzigem Bruder, eine der mächtigsten Damen des Hofes geworden war. Wie ihre in deutschen Landen viel bekanntere Nachfolgerin, Liselotte von der Pfalz, führte sie den Titel "Madame". Sie selbst regte die begabte Freundin an, ihre Geschichte niederzuschreiben, eigentlich die Chronik ihrer Herzensabenteuer, ihrer "Galanteries", wie man damals sagte, denn von den politischen Angelegenheiten der jungen Herzogin, die als Mittlerin zwischen den Höfen von Paris und London eine bedeutsame Rolle spielte, steht in dem Bericht der Frau von La Fayette kein Wort. Madame legte selbst erzählend, korrigierend Hand an, wenn es galt, eine besonders heikle Sache gewandt zu drapieren. Dieser eigenartigen Kollaboration der Historiographin und des Gegenstandes ihrer Schilderung entflammt die hübsche Wiedergabe der Eheirrungen Hennriettens, die alle harmlos wie Backsischstreiche dargestellt erscheinen. Das Talent der Verfasserin der "Prinzessin von Kleve" ist lebendig in der seinfühligen Art, mit der sie die enttäuschte Liebe der vielbegehrten Engländern zum Sonnenkönig andeutet, dessen Bild die Träume der fünfzehnjährigen Prinzessin erfüllt hatte. Von seiner Hand hoffte sie, die Stufen des Thrones von Frankreich hinangeführt zu werden. Die alte Neigung flammt später wieder auf, zumal wenn Eifersucht sie schürt. Mit großer Zartheit charakterisiert der weibliche Chroniqueur die Empfindungen der Herzogin von Orleans, als Louis XIV. dem Greichenzauber ihres Hoffräuleins Louise de la Ballière erlag; Madame sah bekümmert, daß der König sich an die Ballière attachierte. Man konnte vielleicht nicht sagen daß sie das war, was man eifersüchtig nennt, aber es wäre ihr recht gewesen, wenn er keine wirkliche Leidenschaft gehabt und ihr selbst eine Art Anhänglichkeit bewahrt hätte, die ohne die Heftigkeit der Liebe, doch deren Gefälligkeit und Annehmlichkeit (la complaisance et l'agrément) gewähren könnte."
Als Meisterin der Erzählungskunst zeigt sich die La Fayette in der Beschreibung der Todesstunde ihrer Gönnerin. Diese Schilderung schließt mit Uebergehung fünf voller Jahre das reizvolle Lebensbild ab. Von plötzlicher Krankheit wurde die sechsundzwanzigjährige blühende Frau und Mutter hingerafft, einem Leiden, dessen Erscheinungen den Symptomen einer Blinddarmentzündung auffallend ähneln. Anno 1670 diognostizierten die Aerzte Darmkolik. Die Patientin, der Hof und das Volk glaubten an einen Giftmord. Bossuet hat die fromme Ergebung der Sterbenden in der Leichenrede verherrlicht, die er für Henriette von England gehalten; aber die Wirkung, die sein Pathos übt, bleibt hinter er ergreifenden Schlichtheit des Berichtes der Freundin weit zurück. Bei ihr "les paroles sont en harmonie avec les choses" rühmte Anatole France. Die Feinheit des Weibes hat die Sprachgewalt des Priesters beseigt.
Diese Feinheit bezaubert, fesselt, rührt sogar zuweilen in dem erfolgreichsten Werk der Frau von La Fayette, der sehr einfach erzählten, eigenartig sentimentalen Leibesgeschichte: "Die Prinzessin von Kleve". Zwei weniger gekannte Novellen: "Die Prinzessin von Montpensier" und "Zayde" sind Präludien, Vorübungen zu diesem Roman, der in die französische Literatur ein neues Genre einführte, die psychologische Studie. Nach den langatmigen Schlüsselromanen der Scudéry, dieser durch ihre Häßlichkeit wie durch ihren polierten Esprit berühmten "Sappho" der Preziösen, wirkte die anmutig-melancholische "Prinzessin von Kleve" wie Realismus. Wahrheit, Natürlichkeit fand man zu jener Zeit in der epischen Prosa Frankreichs nur im Abenteurerroman mit seinen derb-witzigen Lumpen und Raufbolden und im "Roman bòurgeois", der Sitten und Liebeshändel des Kleinbürgertums darstellt. Madame de La Fayette versuchte es, "les honnêtes gens" in treuer Wiedergabe zu schildern, das heißt die vornehme Welt, von der Molière sagte: "Es ist ein seltsames Unterfangen, sie zum Lachen zu bringen." Dem Leser von heute erscheint auch "Die Prinzessin von Kleve" auf den ersten Blick als ein ziemlich steifes Treibhausprodukt. Aber wie in den wächsernen Blumenblättern mancher Orchidern leuchtend rote Aederchen schimmern, so pulsiert in der grazilen wachsernen Anmut dieses kleinen Liebesromans helles Lebensblut, das Herzblut der Verfasserin. Nach Frauenart durchtränkte sie ihr Werk mit eigenem Erleben.
Den Schauplatz der Handlung verlegte sie nicht wie die Scudéry in die Antike, sondern an den Hof Heinrichs II., jenes ritterlichen Valois, der im Turnier, geschmückt mit den Farben seiner Dame, Diana v. Poitiers, zum Tod verwundet worden ist. Berühmte Frauengestalten, von der Dichtkunst späterer Zeit beleuchtet und verewigt, tauchen in der Erzählung auf. Neben Katharina von Medici, des Herrschers stolzer Gemahlin, erscheint des Königs schöne Schwiegertochter, "la Dauphine Reine": Maria Stuart, Königin von Schottland, mit ihr an Liebreiz wetteifernd, die Königstochter Elisabeth von Valois, Braut des Infanten Don Carlos und später, nach vergeblichem Widerstand, Philipp II angetraut. Bei den Festlichkeiten anläßlich ihrer Vermählung mit dem bejahrten Freier, den Herzog von Alba in Paris vertritt, findet das Turnier statt, dem König Heinrich, der Brautvater, zum Opfer fällt. All diese historischen Figuren und Vorgänge dienen als Komparserie und äußere Behelfe. Die Romancière des großen Jahrhunderts wollte nur höfische Sitte ihrer eigenen Epoche unter dem Deckmantel des Kostüms der Renaissance darstellen. Das tertium comparationis war bald gefunden. Die Worte, mit denen sie das Milieu ihrer Darstellung kennzeichnet, passen ebenso auf den Hof von 1559 wie auf die Umwelt des vierzehnten Ludwig: "Der Ehrgeiz und die Galanterie waren die Seele dieses Hofs und beschäftigten in gleichem Maße Männer und Frauen. Es gab so viele verschiedene Interessen und Kabalen, und die Damen hatten so viel Anteil daran, daß die Liebe sich immer in die Geschäfte mischte, wie die Geschäfte in die Liebe." Empfindung und Geschmack von 1678, dem Jahr seines Erscheinens, gaben dem Roman sein Gepräge. Im Mittelpunkte der Handlung steht eine erfundene Gestalt, eine junge Schönheit aus dem französischen Hochadel, deren Vorname – wir sind im Reiche der Förmlichkeit – nie genannt wird. Auf Wunsch ihrer Mutter, einer verwitweten Madame de Chartres, heiratet sie einen Sohn des Herzogs von Revers, der den Namen Prince de Clèves führt, und alle Vorzüge eines Ritters ohne Furcht und Tadel vereint. Nur in seinen Umrissen, aber von seiner Hand gezeichnet, wirkte dieser Charakter des "mari sympathique" mit dem vollen Reiz der Neuheit. Vor ihm war der ungeliebte Gatte in der
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französischen Literatur benêt oder rustre – ein Dummkopf oder ein Flegel. Die Ergänzung zum Ehedreieck bildet der Herzog von Remours, Sieger in Turnieren und über Frauenherzen, der die Hand der jungfräulichen Elisabeth von England verschmäht, nachdem die blonden Reize der Prinzessin von Kleve ihn bezaubert haben. Dürftig charakerisiert auch er, eine "Figur", kein Mann. Die ganze seltene Kunst der Verfasserin konzentriert sich in der Analyse des Seelenkampfes ihrer Heldin, die zu spät die Liebe von verehrungsvoller Zuneigung unterschieden lernt. Diese Sechzehnjährige wird wie die Phädra des Racine, ihre Zeitgenossin, eine "Beute der Venus". Wie mit dem Skalpell zergliedert Madame de La Fayette das Herz einer reinen Frau. Wie sie ihr Gefühl für Remours allmählich erkennt, erschrickt und doch sich wider Willen freut, wenn der Geliebte es errät, wie sie mit eiserner Strenge sich von ihm fernhält und zugleich von den Qualen der Eifersucht geschüttelt wird, schließlich zur letzten Schutzwehr greift, einem vollen Geständnis ihrer verirrten Liebe an den Gatten, das wird mit den diskretesten Farben und doch mit einer Echtheit geschildert, die keiner modernen Seelenmalerei nachsteht. Der Schluß erscheint dem Auge der Gegenwart viel schwächer. Der Fürst von Kleve stirbt. Auf dem Totenbett bittet er sein Weib, sein Andenken zu ehren, keinem anderen zu gehören. Ihr überzartes Gewissen klagt sie an, durch ihre unselige Leidenschaft den Tod ihres Gatten verschuldet zu haben. Von inneren Kämpfen gebrochen, findet die junge Witwe keine Kraft mehr zum Glück. In einer Stätte frommer Abgeschiedenheit erwartet sie Erlösung vom Leid: "Und ihr kurzes Leben blieb ein Vorbild unnachahmlicher Tugend." In der Bezeichnung "unnachahmlich" liegt ein Zugeständnis der Verfasserin. Die Abnorme im Verhalten ihrer Heldin wird damit von ihr selbst festgestellt.
Dem vielzitierten "cherchons la femme" des älteren Dumas ist oft ein "cherchez l'homme" entgegengestellt worden. Auch der berühmte Roman der Frau von La Fayette ist auf männlichen Einfluß zurückzuführen. "Die Prinzessin von Kleve" ist anonym erschienen. "Sie ist eine Waise," meinte mit geistvoller Rivalenbosheit das alte Fräulein v. Scudéry, "Vater und Mutter verleugnen sie." Wen bezeichnete sie als den Vater? Keinen geringeren als einen Grandseigneur von hohem Geistesadel, einen Frondeur im echten und im übertragenen Sinne, den Verfasser der "Maximes", die eine Art Katechismus mondainer Skepsis geworden sind: Francois Herzog von la Rochefoucauld. Er war es, der bei Frau von La Fayette den Herzog von Remours spielte. Nur war sie, als die Annäherung beider sich vollzog, 31 Jahre alt und Mutter zweier Söhne, er selbst hatte die Fünfzig überschritten. Seine Frau, längst verlassen und resigniert, hatte ihm acht Kinder geboren, und seiner Leidenschaft für die Herzogin von Longueville, die schönste Frau seiner Zeit, verdankte ein wohlgeratener tapferer Sohn das Leben. Die Romantik des Lebens ist meist seltsamer und komplizierter als die der Dichtung. Ob der Graf La Fayette ein mari sympathique gewesen, ist nicht mit Bestimmtheit festzustellen. Alle älteren Biographien seiner berühmten Frau meldeten, sie sei bald nach der Geburt ihres zweiten Knaben Witwe geworden. Der feinsinnige Porträtist der Zierden des französischen Schriftums, Graf Haussonville, entdeckte gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts den Totenschein ihres Gemahls, aus dem hervorging, daß bei seinem Ableben 28 Jahre verstrichen waren, seitdem er das Fräulein Marie Magdeleine de la Vergne – damals schon eine Jüngerin der Musen – geheiratet hatte. Man kann die Liebenswürdigkeit dieses Ehemannes bezweifeln, diskret war er gewiß, diskret bis zum Scheintod.
Eine frivolere Frau als die junge Preziöse, die dem Brauche der Zeit gemäß im Kreise der Schöngeister ein Pseudonym: "Féliciane" trug, hätte die ihr eingeräumte Freiheit kühner ausgenützt. Der Gatte lebte auf seinen Gütern in der Auvergne, sie einige Jahre nach der Hochzeit wieder in Paris. Aber ihr Geist war den Studien zugewendet, ihr Herz der Freundschaft offen und – ihr Gesicht nicht hübsch. Zärtliche, fast schwärmerische Zuneigung einte sie mit der liebenswürdigsten Breifschreiberin aller Zeiten, der Marquise von Sévigné, eine Zuneigung, die in reiferen Jahren zur "wolkenlosen Freundschaft" wurde und bis zum Tode der Gräfin dauerte. La Rochefoucauld entfachte den ersten, späten Sturm in diesem ruhigen Herzen, peitschte es auf zu einer Erregung, die in manchen Briefen und in ihrem kleinen Meisterwerk wiederklingt. Ist Frau von La Fayette der Tugend im engsten Sinne treu geblieben wie ihre Prinzessin von Kleve? Das Alter ihres Herzensfreundes, die Kränklichkeit beider können eine Bejahung hinlänglich begründen. Jedenfalls sind sie eine geistige Ehe eingegangen. Kein Tag verging, an dem der Herzog seine kluge, milde Freundin nicht besucht hätte. In ihrem kleinen Hause, dessen Veranda auf einen schattigen Garten blickte, wo ein Springbrunnen angenehm plätscherte, saß das Paar beisammen, arbeitete gemeinsam und tauschte Gedanken aus. Madame de Sévigné war oft im Bunde die dritte. Schon in der zweiten Hälfte der Dreißig war die Gräfin oft bettlägerig. Sie schien frühem Tode geweiht. "Plus mortelle qu'une autre", nannte sich diese Unsterbliche. Und doch ist sie 59 Jahre alt geworden, hat den geliebten Freund um 13 Jahre überlebt. Der Verlust des Mannes, der ihr ein und einhalb Dezennien in treuer Seelengemeinschaft zur Seite gestanden, erschütterte sie so tief, daß sie fortan des Trostes der Religion bedurfte. "Man verliert die Hälfte seiner selbst, bevor man abberufen wird", schreib sie einmal.
Das schönste Denkmal des Bundes der beiden erlesenen Geister ist ein Exemplar der "Maximes" von La Rochefoucauld, mit korrigierenden, zustimmenden oder ergänzenden Randbemerkungen von der Hand der La Fayette versehen. Das kostbare Buch fand sich im Nachlaß ihres älteren Sohnes. Was ihr in dem Laienbrevier des Pessimismus zu scharf, zu absprechend, zu hochmütig männlich schien, retuschierte sie mit ihrer feinfühligen Frauenhand. Namentlich die Frauen nimmt sie einsichtsvoll in Schutz, und ihre hohe Auffassung vom Wesen der Liebe kommt wiederholt zum Ausbruck. Wenn ihr Freund lehrt: "Die Liebe leiht ihren Namen einer Unzahl von Verkehrsformen, die nichts damit zu tun haben", ergänzt sie berichtigend: "Die Liebe leiht ihren Namen nicht, man nimmt ihr ihn." – "Es gibt gute Ehen, aber es gibt keine wonnevollen", erklärt La Rochefoucauld. Aber das Auge der Frau von La Fayette sicht zweihundert Jahre vor "Nora" das Wunderbare, und sie fügt hinzu: "Ich weiß nicht, ob es keine wonnenvollen gibt; aber ich glaube, es kann solche geben."
Manch temperamentvolles "vrai!" oder "excellent!", "sublime!" als Begleitnotiz zu den Gedanken ihres Freundes, manch scharf verurteilendes "trivial! galimatias!" vervollständigt den Spiegel ihres Empfindens, den sie 1693, kurze Zeit vor ihrem Tode, dem Buche einverliebte, das man später in der Bibliothek des Abbè de La Fayette gefunden hat. Ein Artikel der "Revue des deux Mondes" vom Jahre 1890 beschäftigte sich eingehend mit dem bedeutsamen Exemplare. Immer wieder regt diese eigenartige Frau, deren schöpferisches Talent nicht groß gewesen, das Interesse der Nachwelt an. Sainte-Beuve, Taine, Anatol France haben über sie geschrieben. Mancher einst gepriesene Stern des großen Jahrhunderts ist erloschen. Das zarte Licht ihres klaren Geistes strahlt noch in unsere, ihr so wesensfremde Zeit.