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Der Porträtmaler hat vor den Freunden seines Modells einen sehr schweren Stand. Es ihnen recht zu machen, scheint fast unmöglich, denn jeder wünscht gerade seine eigene Ansicht von dem wohlbekannten lieben Gegenstande festgehalten, betont und verewigt zu sehen. Es gehört Mut dazu, einen Menschen zu porträtieren, der viele Freunde hat. Dieser Mut ist das erste, was ich an Paul Stefan bewundert habe, als ich sein Buch "Frau Doktor" in die Hand bekam. ("Frau Doktor", ein Bildnis aus dem unbekannten Wien. Dreimaskenverlag, München, 1922.) Es werden ihm in Wien Tausende von Kritikern erwachsen, die mit der ganzen Strenge von nahen Familienangehörigen über sein Bildnis zu Gericht sitzen werden. All die Unzähligen, die an das Original durch Freundschaft, Dankbarkeit und herzliche Neigung gebunden sind, alle, die dieses menschliche Elementarereignis für sich selbst erlebt haben oder noch erleben, werden behaupten, sie hätten dieses Buch schreiben können, anders und natürlich viel besser. Sie werden sagen, daß man über Menschen, denen man persönlich nahe steht, überhaupt nicht öffentlich schreiben und sprechen könne; sie werden hinzufügen, daß die ungeschriebenen Bücher (worunter sie ihre eigenen verstehen) die schönsten sind. Das letzte Argument ist nun freilich unwiderleglich. Aber ich für meinen Teil, die in dieser Sache Partei ist, kann dem Autor nur mit warmer Freude erklären, daß ich sein Frauenbildnis ähnlich finde. Ich kann es nicht technisch und ästhetisch werten, nicht über seine artistischen Dualitäten sprechen; ich kann auch sein lebendes Urbild so wenig objektiv betrachten, wie etwa einen blühenden Baum aus meinem eigenen Garten. Aber danken kann ich ihm, daß er sich gemüht hat, etwas von dem auszusprechen, was ja doch irgendeinmal gesagt werden muß.
Frau Doktor -- Eugenie Schwarzwald -- ist hier sozusagen in ihrer historischen Entwicklung dargestellt. Sie kommt als junge Studentin aus Zürich nach Wien, übernimmt ein altes Mädchenlyzeum und verwandelt es in eine moderne, lebenausstrahlende Menschenschule. Ihre eigene ungemessene, unerschöpfliche Vitalität gießt sie in diese Schule, und sie macht aus ihr etwas so völlig Neues, daß alle "maßgebenden Faktoren" ihr mit dem erbgesessenen österreichischen Mißtrauen begegnen. Die Hindernisse, die ihr Aengstlichkeit, Kleingläubigkeit, Herzensträgheit und Böswilligkeit in den Weg werfen, sind ihr nur Heizmaterial für das Feuer ihres Enthusiasmus, ihrer stürmischen Aktivität. Jedes Widerstreben macht sie stärker, bestimmter, siegesgewisser. Und gerade darum, weil sie an den stetigen Hemmnissen stetig wächst, weil Unverständnis, Undank, Abwehr und Uebelwollen sie nie entmutigt, sondern immer nur in ihrem reinen Wollen bestärkt haben, ist eine Entwicklung wie die ihrige nur in Oesterreich denkbar, wo jeder gern scharfe Kritik übt an dem, was andere vollbringen, wo aber alles wie ein Mann in Waffen gegen den aufsteht, der etwas schaffen will. Man kann hier durch ein wenig freundliche Ueberredung für rein persönliche Zwecke manchmal Unglaubliches erreichen; wenn jemand mit der nötigen Beharrlichkeit etwas für sich selbst erbittet, weist ihn auf die Dauer niemand gern ab. Aber wehe dem, der nichts für sich will, sondern der andern etwas geben, für andere etwas tun will! Er hat hier alles gegen sich, er gilt als lästiger Querulant, man sucht ihn auf jede Weise abzuschütteln. Ich bin einmal mit einer Frau, die eine Million verschenken wollte, zu einer Behörde gegangen, um für sie die Erlaubnis zu erwirken, auf eine ganz bestimmte Art frische Milch an Proletarierkinder abzugeben. Der maßgebende Faktor war so streng und abweisend, daß sie Dame nach einer kurzen Unterredung in Tränen ausbrach und, um Verzeihung bittend, erklärte, sie wolle von ihrer bösen Absicht abstehen, ihre Million behalten und es gewiß nicht wieder tun. Das ist ein sehr typisches Erlebnis. Nun, Eugenie Schwarzwald erlebt es unzählige Male, aber sie gibt nicht nach, bleibt bei ihrem Vorsatz, auf die Gefahr hin, sich bei allen Leuten unbeliebt und gefürchtet zu machen, sie ruht und rastet nicht, bis der “maßgebende Faktor” überwunden ist und die Kinder ihre Milch haben. Und dann entdeckt sie, was alles zur Milch dazu gehört [:] Brot, Wäsche, Wohnung, Unterricht, Pflege, alles muß her, da können die maßgebenden Faktoren tun, was sie wollen, sie können sich mit einem Wall von Paragraphen dagegen stemmen, sie können drohen, warnen, es hilft ihnen nichts, die Kinder kriegen ihr Recht und Frau Doktor triumphiert auf der ganzen Linie. Ihre schrankenlose Leidenschaft, zu schenken, ist durch kein Heer von Ministerialbeamten einzudämmen. Unersättlich frönt sie dieser Leidenschaft; ein urweiblicher, urmütterlicher Zug ist in ihr geradezu hypertrophiert, er verdrängt völlig alles, was sonst eines Menschen Ziel und Streben sein mag, alle schöpferischen Kräfte in ihr werden von ihm aufgezehrt. Sie ist ein hochbegabter Organisator, aber wenn man ihr ein Staatsamt übertragen oder sie bitten würde, an die Spitze eines Weltexportkartells zu treten, dann würde sie wahrscheinlich dankend ablehnen und lieber in einer Schulklasse Schokolade an die Kinder verteilen, vollkommen glücklich, solange die kleinen Naschkatzen jubeln.
Die große Trauer und die große Not des Krieges haben in diesem Frauenherzen ein Feuer entzündet, an dem sich eine ganze hungernde und frierende Stadt erwärmte. Bleiche, welkende, verhärmte Kinder in düsteren Straßen – wie macht man sie froh? Sie müssen aufs Land. Wiener Kinder aufs Land! Damit war eine Institution geboren, die das Leben von Hunderttausenden von jungen Menschen geeinflußt und verwandelt hat. Kinderfahrten ins Ausland kamen dazu – große, tief in die Zukunft hineinreichende Experimente,
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eine neue Lebensrichtung für diese Stadt der seßhaften Kleinbürger, die sich vor aller Welt und Ferne zu fürchten pflegten.
Später aber, als der Krieg allmählich auch die Erwachsenen in immer tiefere Hilflosigkeit brückte und sie selber zu fürsorgebedürftigen Kindern machte, da fing diese unersättliche Freudenspenderin an, sich für die Erwachsenen zu interessieren. Die Menschen hungerten, solche, die durch Geburt und Erziehung für den Kampf gegen die physische Not besonders schlecht ausgerüstet waren, begannen hinzusterben, seelisch und körperlich. Da kam Eugenie Schwarzwald, die Hoffnungslosen zu sammeln und ihnen die schwerste und brennendste Sorge zu nehmen. Eine warme Mahlzeit sollte jedem mühelos gesichert sein. Wer sie nicht bezahlen konnte, für den wurden Zahler gefunden. Dann mußten auch die Erwachsenen aufs Land gebracht werden. Ueberall, wo es schön und friedlich war, sollten Heime für Menschen entstehen zur Rast und Erholung und Kräftigung. Und sie wuchsen aus dem Boden. Eugenie Schwarzwald spricht eine Sache aus und vier Wochen später steht sie fertig, nein, sie steht nicht, sie läuft, sie rotiert, sie sprudelt, sie kocht über vor Leben und Bewegung.
Paul Stefan erzählt im fesselnden Detail, wieviele von den Dingen, die man sich aus dem Leben Wiens nicht mehr wegdenken kann, “Frau Doktor” zur Urheberin und zur treibenden Kraft haben. Er sucht zu zeigen, welchen Einfluß diese einzigartige Frau auf die Menschen nehmen mußte, die [um] sie herum aufwuchsen. Er hat mit seinem kleinen Buch etwas geleistet, was nur diejenigen ganz schätzen können, die zugleich wissen, daß man seinem Gegenstande nicht gerecht werden kann; daß man diese Glut von Leben und Belebenwollen, diesen brennenden Impuls zur Menschenbeglückung nicht in einen Essay fassen kann. Am wenigsten, wenn man im Bannkreis jenes Zaubers steht, von dem Eugenie Schwarzwald lebt und der ihr die Kräfte zu ihren Leistungen gibt. Dieser Zauber heißt Liebe.
Die Menschen, die dieser Frau innerlich ganz nahe stehen, können es kaum über sich gewinnen, öffentlich von ihr zu reden. Sie lieben sie und schweigen.