Die Arbeiterinnenfrage - eine Frauenfrage (Essay, Scientific Work, 1907)

Die Begründerin der deutschen Frauenbewegung, Luise Otto, war es, die als erste auf die Interessen der Arbeiterinnen hinwies. In der “Adresse eines Mädchens“, die sie im Jahre 1848 an das sächsische Ministerium richtete, das eine Kommission zur Erörterung der Erwerbs- und Arbeitsverhältnisse einberufen hatte, verlangte sie verbesserte Arbeitsgelegenheiten für die Frauen und wies dabei auf die sittlichen Gefahren hin, denen die Arbeiterinnen bei ungenügenden Löhnen ausgesetzt sind. Die Adresse schloß mit den Worten: “Glauben Sie nicht, meine Herren, daß Sie die Arbeit genügend organisieren können, wenn Sie nur die Arbeit der Männer und nicht auch die der Frauen organisieren. Und wenn man überall vergessen sollte, an die armen Arbeiterinnen zu denken, - ich werde sie nicht vergessen!“

     Sei jener Zeit, als die Worte dieser mutigen Frau allgemeinen Beifall und allgemeine Würdigung fanden, hat man die Notlage der Arbeiterinnen noch oft vergessen; selbst in Kreisen, in denen man sich um die Hebung der Arbeiterklasse bemühte. Es galt sogar lange als Streitfrage, ob man überhaupt neben der Arbeiterfrage eine besondere Arbeiterinnenfrage anerkennen könne, ob die Arbeiterinnen Forderungen zu vertreten hätten, die über das von den Männern Erstrebte hinausgehen. Hat doch selbst die sozialdemokratische Partei lange Zeit den Standpunkt vertreten, daß keine gesonderte Frauenagitation in proletarischen Kreisen notwendig sei. Und die sozialdemokratischen Frauen stellten sich auf einen ähnlichen Standpunkt, indem sie jedes gemeinsame Arbeiten mit der Frauenbewegung unter der Begründung ablehnten, daß sie trotz aller Berührungspunkte in rechtlichen und politischen Reformforderungen doch in den entscheidenden ökonomischen Interessen mit den Frauen anderer Klassen nichts Gemeinsames hätten; die Emanzipation der proletarischen Frauen könnte deshalb nicht das Werk der Frauen aller Klassen sein, sondern allein das Werk des gesamten Proletariats, ohne Unterschied des Geschlechts.
     Wenn nun auch die sozialdemokratischen Frauen diese splendid isolation nicht aufgegeben haben, so mußten doch auch sie mit der Zeit erkennen, daß sie neben der Verfolgung allgemeiner Parteibestrebungen gesonderter Frauenorganisationen oder einer gesonderten Agitation unter den Frauen bedürfen. Denn die Frauen nehmen nicht nur in staatsrechtlicher Beziehung eine Sonderstellung ein, sie haben auch in der Familie Sonderpflichten zu erfüllen. Unter Anerkennung dieser Verhältnisse haben die sozialdemokratischen Frauen seit dem Jahre 1900 regelmäßig wiederkehrende Konferenzen abgehalten und dadurch bewiesen, daß auch sie das Vorhandensein einer besonderen Arbeiterinnenfrage - die eben eine Frauenfrage ist - anerkennen, wenn sie auch diese Frauenfrage nicht in Gemeinschaft mit Frauen anderer politischer Überzeugungen lösen wollen.
     Immerhin haben die Anhängerinnen der Frauenbewegung sich durch die ablehnende Haltung der sozialdemokratischen Frauen nicht verhindern lassen, ihrerseits für die Förderung und Hebung der Arbeiterinnen einzutreten und die Arbeiterinnenfrage als einen Teil der Frauenfrage zu behandeln. Müssen doch alle Frauen, für die unsere Bewegung nicht auf dem Glauben an die Gleichartigkeit der Geschlechter, sondern auf der Überzeugung von der Eigenart der Frauen beruht, der sie Einfluß im öffentlichen Leben, Teilnahme an der Kulturarbeit sichern wollen, gerade aus dieser Anschauung von der verschiedenen Veranlagung der Geschlechter heraus auch besondere Bedürfnisse der Arbeiterinnen anerkennen, für ihre Befriedigung eintreten. Für sie ist die Arbeiterinnenfrage wohl auch ein Teil der Arbeiterfrage, soweit die Frau ebenso wie der Mann der Arbeiterklasse unter der Abhängigkeit vom Unternehmer, unter der Unsicherheit ihrer Lage, unter dem Klassengegensatz leidet. Aber darüber hinaus haben die Arbeiterinnen besondere Forderungen aufzustellen, weil die Erwerbsarbeit für die Frauen besondere Konsequenzen und Nachteile zu zeitigen pflegt, und weil die Frauen unter den bisherigen rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen unter besonderen Bedingungen auf den Arbeitsmarkt treten.
     Die Schäden der industriellen Frauenarbeit liegen zunächst auf physiologischem Gebiete, denn die Bestimmung der Frau zur Mutterschaft kann bei der gewerblichen Arbeit nicht genügend berücksichtigt werden. Körperlich anstrengende Arbeit in jugendlichem Alter schädigt den weiblichen Organismus in viel bedenklicherer Weise als den männlichen. Ungeeignete Beschäftigung der Frauen in der Zeit der Schwangerschaft macht die Frauen oft unfähig, gesunde Kinder zur Welt zu bringen. Frühzeitige Wiederaufnahme der Arbeit nach Entbindungen führt nicht nur zu schweren Erkrankungen der Frauen. Sie verhindert die Mutter auch, ihre natürlichen Pflichten gegenüber den Kindern zu erfüllen. Hohe Säuglingssterblichkeit ist eine Begleiterscheinung der Fabrikarbeit verheirateter Frauen.
     Die Schäden der industriellen Frauenarbeit liegen weiter auf sittlichem und sozialem Gebiet. Denn das Mädchen der Großstädte wird durch die Fabrikarbeit hauswirtschaftlichen Berufen entzogen und damit auch dem häuslichen Pflichtenkreis entfremdet; umso mehr, je länger die tägliche Arbeitszeit ausgedehnt ist. Denn auch für den Besuch hauswirtschaftlicher Fortbildungskurse oder selbst für eine nützliche Tätigkeit im Elternhaus bleibt bei elfstündiger Arbeitsdauer dem Mädchen weder Zeit noch Kraft übrig. Für die verheirateten Frauen aber bedeutet ganz besonders die Fabrikarbeit eine Gefahr. Für sie ergibt sich eine fast unlösbare Aufgabe: zwei Pflichtenkreisen gerecht zu werden. Wenn die Mutter in die Fabrik geht, muß die Häuslichkeit, muß das Familienleben vernachlässigt werden. Sittliche Werte gehen verloren. Wenn die Frau nach Beendigung der außerhäuslichen Arbeit noch kochen, waschen, Kinder versorgen soll, muß sie bei solcher Überanstrengung gesundheitlich Schaden leiden, und auch als Mensch, als Persönlichkeit zu kurz kommen. Frauen, die vor eine solche Doppelaufgabe gestellt werden, pflegen schließlich beide Aufgaben nur mangelhaft zu erfüllen. Es bleibt in der Geschichte der industriellen Entwicklung unvergessen, daß in Lancashire zur Zeit der großen Baumwollkrise - als die Fabriken sich schlossen und eine Hungersnot ausbrach - die Sterblichkeit der Säuglinge zurückging, weil die Mütter imstande waren, den Kindern statt der Opiummixtur die Brust zu reichen.
     Die Arbeiterinnenfrage ist ein Problem der Gefährdung des weiblichen Organismus und der Vernachlässigung des häuslichen Pflichtenkreises durch die Frau. Und schließlich ist sie noch das Problem der Gefährdung des ganzen Arbeiterstandes durch die lohndrückende Tendenz, die der Frauenarbeit anhaftet, weil die Frauen in viel stärkerem Umfang als die Männer ungelernte Arbeit tun, weil die Frauen ihre Berufstätigkeit als Übergangsstadium betrachten, weil sie nicht wie die Männer ein Familieneinkommen zu verdienen suchen.
     Die ständige Zunahme der Arbeiterinnen, die Größe und Ausbreitung der Gefahren industrieller Frauenarbeit haben dazu geführt, daß in immer weiteren Kreisen das Problem als solches erfaßt worden ist. In allen politischen Kreisen sieht man ein, daß die Mittel, deren sich die männlichen Arbeiter zur Hebung ihrer Lage bedienen, für die Frauen nicht ausreichen. Besondere Formen der Organisation, besondere Maßregeln gesetzlichen Schutzes, besondere Zweige oder Leistungen des Versicherungswesens werden notwendig sein, wenn die in der Industrie beschäftigten Mädchen vor der Eheschließung gesund erhalten werden sollen, wenn man die Frauen für ihre Familienpflichten - nicht nur für die physischen Funktionen, sondern auch für ihre sittlichen Aufgaben - freimachen will. Vor allem aber bedürfen die Frauen der rechtlichen Gleichstellung mit den Männern in dem Vereinsgesetz, damit sie nicht länger des wichtigsten Mittels der Selbsthilfe beraubt bleiben.
     In allen Parteien hat man diese Fragen erörtert, ohne bisher nennenswerte Resultate, ohne auch nur ein einheitliches Programm in bezug auf Mindestforderungen zu erzielen. Die zunächst Beteiligten, die Frauen selbst, wollen nun diese Aufgabe in die Hand nehmen. Eine Konferenz zur Förderung der Arbeiterinneninteressen wird am 1. und 2. März in Berlin im Saale der Königlichen Bauakademie stattfinden, die von Frauen der verschiedensten Parteirichtungen einberufen ist. Von den katholischen Frauenorganisationen bis zu den fortschrittlichen Frauen werden alle Schattierungen vertreten sein. Auch bedeutende männliche Sozialpolitiker und sozialpolitische Organisationen haben sich dem einberufenden Komitee angeschlossen. Nur die Sozialdemokratinnen haben es - wie bei anderen Veranstaltungen der Frauenbewegung - abgelehnt, dem Komitee beizutreten.
     Neben der Lohnfrage wird die Frage der Fachausbildung der Arbeiterinnen, das Problem der Vereinigung von Fabrikarbeit und Mutterschaft erörtert werden. Das Wahlrecht der Frauen für die Krankenkassen, Gewerbegerichte, Arbeitskammern steht gleichfalls auf dem Programm. Die Vorträge werden von Helene Simon, Dr. Elisabeth Jaffé-Richthofen, Dr. Marie Baum, Dr. Margarete Bernhard, Frau v. Gordon, Professor Harms, Professor Mayet gehalten werden.
     Gelingt es den Vertretern der verschiedenen politischen Richtungen, sich auf gemeinsame Forderungen und Aufgaben - auch nur in bezug auf einzelne dieser Fragen - zu einigen, so wird dadurch eine wertvolle Vorarbeit für die Sozialreform des Deutschen Reiches geleistet, so werden diese theoretischen Erörterungen auch die praktischen Interessen der Arbeiterinnen fördern helfen.

Alice Salomon
Frauenemanzipation und soziale Verantwortung
Ausgewählte Schriften - Band 1 : 1896 - 1908
S. 357-360
Herausgegeben von Adriane Feustel
Hermann Luchterhand Verlag: Neuwied; Kriftel; Berlin - 1997

Bibliographic Information
Author
Publication Date
1907
Publication Place
Berlin Germany
Number of Pages
2 page(s)
Press
Die Nation, 24. Jg., Nr. 21, 23. Febr. 1907, S. 326-327