Eines Abends begleitet mich ein österreichischer Bekannter in das Tokioter Vergnügungsviertel Asakusa (sprich : Asaksa). Das österreichische Konsulat hat mir sein Auto geliehen. Wir lassen es beim Eingang stehen und mischen uns in die Menge der Besucher, die in jeder Bude, in welcher ich etwas besehe, einen Halbkreis um mich bilden. Geradezu rührend ist die Befriedigung, mit der sie mein Entzücken über den phantastischen Anblick zur Kenntnis nehmen. Dieser ist aber auch weit über tausendundeine Nacht hinaus phantastisch, bunt und künstlerisch bewegt.
Spielzeug- und Bonbonsbuden sind mit vollendeter Dekorationskunst, mit Fähnchen, Papierblumen, Lampions und Buchstabentafeln ausgeschmückt, die Wortzeichen, die ganz Japan aufputzen – sollten sie jemals verschwinden, so würde das Land nüchtern und armselig aussehen – sind hier in allen Farben gedruckt und gemalt : Gold auf Rot, Weiß auf Grün oder Schwarz auf Purpur. Die Meisterschaft in der Dekoration ist in diesem Vergnügungsbezirk unbedingt erreicht, kein Volk der Wellt macht den Japanern eine solche Gasse voll irisierender Schönheit nach. Auch die Beleuchtung, die im Osten überhaupt eine große Rolle spielt, übertrifft hier alles Dagewesene ; seitdem in den Lampions elektrische Birnen stecken, können sich die Japaner an Lichteffekten gar nicht genug tun. Diese bunten Buden im Lampenglanz, diese Reihen von Ampeln und Papierkunstwerken, diese strahlende Illumination, die sich in den farbigen Kimonos bildhaft auffrisierter Musmehs bricht – hier zeigt sich das Japan der Phantasie, von dem jeder träumt, der nach dem Osten fährt.
Hinter der Budenstraße liegt das Kinoviertel um einen Teich herum, in dem sich all die Tausende von Lichtern spiegeln, mit denen die Kinotheater verziert sind. Gass’ auf Gass’ ab hängt eine Tafel neben der anderen mit den grellsten, übermannshohen Reklamebildern, mit den wüstesten Szenen der Dramen in schaurig übertriebenen Darstellungen, meist Mordbilder und Schreckensaugenblicke. Mit doppelten und dreifachen Lichtkränzen sind sie eingerahmt, aber auch jede Linie der Architektur ist wie nachgemalt von in Lampions steckenden Glühbirnen, und die leuchtende Zeichnung läuft senkrecht, wagrecht, in Kreisen, Bogen und Zickzackwellen.
Trotz aller Gesetze, die der Feuersgefahr engegenwirken sollen, staut sich die Menge im Parkett in lebensgefährlichem Gedränge. Hier unten dürfen nämlich die Schuhe anbehalten werden. Wir wählen also das kleinere der Uebel, ziehen die Schuhe aus und nehmen auf dem Balkon Platz, dessen Fußboden mit Matten belegt ist, so daß die Japaner in den Strumpfschuhen, den Tabi, kommen, und wo es teurer, also leerer ist.
In fast jedem japanischen Kino wechseln zwei Abteilungen miteinander ; die eine bringt ausländische, meist amerikanische Films, Räuber-, Detektiv-, Akrobaten- oder Kriegsstücke voll gräßlicher Tricks und Schrecken, mit Blutvergießen, mit Diebereien und Idiotenszenen, so daß man sich nicht wundern dürfte, sähen Japaner Amerika als das Land der Gauner und Banditen an. Die inländische Abteilung ist ebenfalls von diesem Hang nach Verbrechen angekränkelt, außerdem aber auch noch langweilig. Ihr Erfolg hängt von dem Erklärer ab, der bei den ausländlischen Films mit natürlicher Stimme und ohne jede Musikbegleitung die Geschehnisse erläutert, beim japanischen Film aber mit einem richtigen Chor auftritt und die Gespräche der im Bild agierenden Schauspieler im antiken Dramaton deklaniert. Bei einem europäischen Abend kommt es auf feinen Witz an, bei einem japanischen auf feinen Vortrag, jedenfalls aber wählt das Publikum ein Kino auf den Namen des Erklärers hin.
Sieht man die Weiblein, die ihre Sprößlinge auf dem Rücken mitschleppen, so begreift man nicht, daß ihnen diese Leistung durch das Vergnügen aufgewogen wird, denn die japanische Bühnenlangsamkeit wird im Kino noch einschläfernder als im Theater. Begibt sich der Held des Stückes von einem Schauplatz zum anderen, so läuft das Bild auf dem ganzen Wege mit und zeigt ihn aufstehend, die Treppe hinab- und dann wieder hinansteigend, sich setzend, kurz, Schritt für Schritt, so daß viele Hunderte von Metern abrollen, ohne daß irgend etwas geschieht. Die Grundlage, auf der bei uns der Reiz des Kinos beruht, nämlich die Schnelligkeit, die Bewegung und das Ereignis, wird hier auf den Kopf gestellt, und nur ein winziger Bruchteil des Films bliebe übrig, schnitte man aus ihm die Ausführlichkeit
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[Bild] jedes Kommens und Gehens heraus. In ihr lebt sich das japanische Kino aus. Kommt es dann aber, nach schier qualvoll endloser Hinhaltung, zur großen Szene der Handlung, dann darf man auf die grausamsten Mordbilder mit allen Scheußlichkeiten realistischer Ausmalung rechnen. Der Film kann ja das Abschlagen von Köpfen und das Dahinrollen blutiger Hälse, das die alte japanische Oper verlangt, noch greller bringen als das Theater. Und noch leichter ist es dem Film, die typischen Heldenkämpfe zu inszenieren, in denen der angegriffene Ritter es mit fünfzig Mordgesellen gleichzeitig aufnimmt und in denen er sie alle besiegt und erschlägt.