Below is a transcription of the essay, for original sources, use the link(s) at the end of the transcription.
Station Gloggnitz! Wie fröhlich das klingt. Behaglichkeit, Ferienfreude, Bergfreiheit. So etwas Beruhigendes hat dieser Bahnhof.
Ganz anders sieht er am Peter und Paulstag des Jahres 1924 aus. Die Tausende von Menschen, die da ankommen, such keine Freude, sie sind gekommen, um mitzutrauern.
Man hat in der Zeitung gelesen: 29 Bergleute sind verunglückt. Mit Teilnahme gelesen, aber ohne Vorstellung von der Größe des Unglückes. Denn wir haben ha gelernt, uns durch Zahlen nicht imponieren zu lassen. Wir kannten Extraausgaben, in denen stand: "Achtzigtausend Russen gefangen, die "Eigenen" haben nur geringe Verluste zu verzeichnen, höchstens 12.000 Mann." Wie kann eine Welt, die so verdorben ist, daß sie nach dieser Nachricht weiterleben kann, verstehen, was es bedeutet, wenn 29 Männer sterben!
Wer aber Sonntag auf dem Gloggnitzer Marktplatz war, der hat das verstehen gelernt. Da war mit Seilen ein riesiger Raum abgegrenzt und eine Tafel stand dabei : nur für die engsten Leidtragenden. Man mußte denken: wie groß hätte der Platz erst sein müssen, um die Leidtragenden jener 12.000 "Eigenen" zu fassen?
Unter dem strahlenden blauen Junihimmel entwickelt sich ein wunderbar festliches Bild -- ein farbiges Bild, denn arme Leute haben keine Trauerkleider. Alle Menschen sehen tieftraurig aus. Und doch liegt Heiterkeit über dem Bilde. So herrlich ist die Sonne, so stark der Jasminduft, so viele Kinder in weißen Kleidern, und so sehnsüchtig ist das menschliche Herz nach irgendeiner Form der Gemeinschaft, daß sogar diese gemeinsame, herzzerreißende Trauerfeier eine Art von lustvoller Ergriffenheit auslöst, nur weil es so viele sind, die etwas eint.
Frühere Zeiten hätten gesagt: Ein unvergeßlicher Einbruch. Wir aber wissen, daß man alles vergißt. Wir werden wieder ruhig schlafen, unbedrückt durch die Möglichkeit, daß ein bißchen Braunkohle Menschenleben kosten kann. Wir wenden uns keine Gedanken darüber machen, daß es Arbeitsstätten gibt, wo man an Gasmasken Mangel leidet. Welch ein entsetzliches Requisit! So etwas sollte es gar nicht geben dürfen, wie Gasmasken. Und doch gibt es sie, und zwar nur drei für dreihundert Menschen und außerdem verrostet. Die einzige Frage, die sich die Trauergäste zuraunen, lautet: Wer ist schuld? Namen werden genannt, aber ohne Zorn und Wut. Nachdenklich sehen alle Leute
aus, als fühlten sie: Niemand einzelner ist allein schuld, wir alle sind schuld. Wenn man in einer Welt lebt, die für alles Geld hat, was nichts wert ist, aus purer Gedankenlosigkeit aber kein Geld zur Ausbildung von Arbeiterrettungskorps und für Tragbaren; einer Welt, die die Lebenswürdigsten sterben läßt, so gehört man -- wir alle -- for ein Weltgericht wegen Vernachlässigung der pflichtgemäßen Obsorge für die Institution des heiligen Lebens.
Die Arbeiterschaft von Niederösterreich hat alles aufgeboten, die toten Kameraden zu ehren: Das beste Gewand haben sie an, sie schleppen schwere Fahnen, ihre derben Männerfäuste halten zum erstenmal Blumen, sie singen und spielen kunstlos und um so ergreifender.
Schön ist die Feier. Alle fühlen es. Man muß sich gewaltsam zusammennehmen, den entsetzlichen Anlaß nicht einen Augenblick zu vergessen. Aber da steigen mit einem Ruck 29 Särge in die Höhe und glänzen in der Junisonne wie Gold, emporhoben von den starken Armen der Kameraden, die sich diesen letzten Liebesdienst nicht nehmen ließen. Und plötzlich weiß man, warum man hier ist. In diesen 29 Särgen liegen 29 Menschen. Zwei Arten von Toten: Opfer und Helden. Opfer, die täglich aus dem Licht in die Grube fuhren, der sie eigentlich nie ganz getraut haben und ihr endlich verfallen sind: der schwache Greis, der zur Schande unserer Zeit mitfahren mußte, um sein Leben zu fristen, der stattliche Mann auf der Mittagshöhe des Lebens, um seine acht Kinder erziehen zu können, und der schöne junge Bursch, weil er am Peter und Paultag sein Mädel heiraten wollte. Opfer. Verlegen-trauernd blicken wir auf diese Toten. Aber ein paar Särge gibt es, vor denen man in Verehrung auf die Knie sinken möchte, da sind nämlich jene darin, die alles gutmachen wollten, was die Menschheit täglich verbricht. Sie wollten ihre Kameraden retten -- dort gibt es nämlich noch Kameradschaft -- und es ist ihnen gelungen. Das muß ein unerhörtes Hochgefühl gewesen sein, als sie die Geretteten an die Juniluft brachten. Sie haben es mit ihrem Leben bezahlt.
Jetzt setzt sich der Zug in Bewegung in wunderbarer Ordnung. Man hört keinen heftigen, keinen hastigen Schritt. Leise und behutsam, wie um die geliebten Toten nicht zu wecken, treten alle diese harten Männer auf, Zug um Zug zieht vorüber, eine schier unübersehbare Menschenmenge geht den Särgen voran: Bergleute, Turner, Gänger, Feuerwehr. Da erscheint zwischen den dunklen Männergestalten eine lichte Gruppe. Ein junges Mädchen in Brautkleid, Myrtenkranz und Schleier geht voran, unwahrscheinlich ergreifend. Wie ist doch das konventionelle Brautkleid hier rührend! Dieses Mädchen ist wirklich ein Opferlamm: die Totenbraut des jungen Bergmannes. Ein Mittagsgespenst, zieht sie durch die Hochsommerstraße, begleitet von ihren kleinen Kranzelmädchen, deren schwarze Flöre mit einem Schlag die ganze Landschaft verdüstern. Jetzt kommen die Leidtragenden in Haufen. Was dem Sarge vorausging, war Arbeitswürde, Solidarität, Demonstration. Was dem Sarge folgt, ist der blutige Ernst, die grausame Wahrheit. Die engsten Leidtragenden haben nicht die Kraft, zur Weihe des Tages beizutragen. Sie [achten] nicht auf den Rhythmus ihrer Schritte, sie stolpern, sie ringen die Hände. Aber sie schweigen, nur daß sich hie und da einer Frauenbrust ein vereinzelter Schrei entringt. Erwachsene blicken verständnislos wie Kinder, Kinder weinen in vollem Verständnis der Lage wie Erwachsene.
Hat man bisher die Trauer erduldet, ohne zu weinen, jetzt erscheint eine Gestalt, die einem das Herz im Leibe umdreht. Trotz der Juniglut geht Todesahnung von ihr aus. Ein in Trauerschleier gehülltes Mädchen, geführt von zwei kleinen blonden Engeln, schließt feierlich schreitend den Zug, ein Ausrufungszeichen zu dem schauerlichen Text des Tages. "Wer ist das?" fragen wir. Die Arbeiterfrau neben uns sagt: "Das ist "das gebrochene Leben". Die Braut für alle ledigen Burschen, die in der Grube geblieben sind." Jetzt verstehen wir. All das junge Männerleben, das jetzt auf dem Gloggnitzer Friedhof ungelebt vermodert, hat noch eine Wunscherscheinung herbeigezwungen, das schöne Mädchen, welches nach Volkssitte "das gebrochene Leben" heißt und den unvermählten Toten das Geleite zu geben hat.
Wo ist die Theaterregie, die so etwas zu erfinden vermag? Wer kann noch ins Theater gehen, wenn er auf dem Marktplatz in Gloggnitz das Schauspiel vom gebrochenen Leben gesehen hat? Am Sonntag von Peter und Paul wurde in Gloggnitz Arbeiterrisiko und Arbeitertod wahrhaft imposant inszeniert, ohne daß die Mitwirkenden ihre Rollen auswendig gelernt hätten. Aber wir werden auch dieses Schauspiel vergessen.
Unvergeßlich wird dieser Tag nur den sechzig Waisenkindern bleiben, die durch ein wenig Gas aus ihrer Lebensbahn geschleudert worden sind. Vielleicht ist ein Genie unter ihnen. Verloren. Vielleicht steckt in einem die Anlage zum Verbrechen, die noch hätte durch ein glückliches Familienleben ausgemerzt werden können. Verloren.
In diesem Augenblick wendet sich natürlich alle Teilnahme diesen Kindern zu. Gutherzig, wie die Oesterreicher sind, wir sie sicher bis Weihnachten vorhalten. Dieses Kinderunglück aber wird so lange dauern, bis alle die 120 Augen geschlossen sind, die heute so unkindlich-heiß geweint haben. Was wird aus den Kindern des Helden werden, der siebenmal in die totbringende Grube herabstiegen ist, ihr sieben Kameraden entrissen hat, um ihr zuletzt in seiner eigenen Person Ersatz zu leisten.
Wer will diese Kinder an sein Herz nehmen? Wer will diesen Kindern Vater sein?