Ein Auffass aus meiner Pensionszeit <<Er wird besser als ich es jetzt könnte, meine Kinderjahre schildern.>>
Ich bin am 6. Februar 1849 in Freiburg im Breisgau geboren; kaum war ich auf der Welt, sind wir nach Karlsruhe versetzt worden. Als ich in die Kleinkinderschul kam, lief ich davon. Endlich mußte ich doch hinein. Ich wurde auf einen Tisch neben das Klavier gesetzt, ab dem meine Lehrerin Stunde gab; da sollte ich stillsitzen und stricken: das war entsetzlich, und ich warf mein Strickzeug hinter den Kasten. Mein Bruder war ein Jahr jünger als ich und viel bräver; er hat mir auf dem Heimweg gesagt: “Du kommst gewiß noch in die Höll”.
In der langen Straß in einem Laden lernten wir die erste böse Frau in unsrem Leben kennen; sie sagte, sie wolle uns Handschuhe anmessen,
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und wir streckten die Hände über den Ladentisch; da tat sie uns sehr weh, daß wir weinen mußten und uns doch schämten und ganz rot wurden, was mir unvergeßlich blieb. Ebenso erlitten wir einen tiefen Seelenschmerz über zwei junge Ziegen, die eine Frau ins Haus brachte, und mit denen wir uns unters Bett versteckten, und bitterlich weinten, weil wir gehört, daß man sie schlachten wollte. Dieselben Tränen vergoß ich, als mir Tante das Leiden Christi erzählte.
Als ich fünf Jahre zählte, machte Mama und Tante eine große Reise mit mir nach Celle in Hannover. Wir mußten einen ganzen Tag auf dem Rhein fahren, und ich wollte die kleinen Häuser an den Ufern für meine Puppe haben, was eine rechte Plage für Mama und Tante war, denn ich sollte außerdem wieder fortwährend stillsitzen, und das ging nicht. In Köln wo wir kölnisches Wasser kauften, saß eine Frau mit einem roten Kopftuch vor dem Dom und weinte; das tat mir so weh, daß ich auch weinte und nicht vom Fleck wollte.
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Endlich kamen wir in Celle an, wo ich in einem Korb schlief. Tante Caton lud mir kleine Mädchen ein, die aber alle so still und brav waren, daß ich sie nicht ausstehen konnte. Onkel Petersen ließ mich beim Spazierengehen über alle Steinhaufen springen; Schwäne schwammen in einem Teich, und ich fütterte sie.
Nachdem wir lange genug in Celle waren, kehrten wir wieder nach Karlsruhe zurück, und ich kam in die höhere Töchterschule, die am Landgraben lag.
Tantele lernte mit mir; ich weiß überhaupt nicht, wie es uns ohne Tante Therese gegangen wär, denn wer hätte uns sonst Geschichten erzählt!
Im Sommer ging Mama mit mir nach Kenzingen, zum Apothekeronkel; dort kannten mich alle Leute, nannten mich's Karlsruhermaidele, und ich war selig. Im Garten war eine große Wiese mit einem herrlichen Birnenbaum; da lagen sie gelb im Gras, wenn ich des Morgens herunterkam, und die Hortensienbeete
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an der Mauer gefielen mir so gut mit den glänzenden Tautropfen. Überall war ich, und immer den Mund und die Taschen voll, vier Wochen lang! und niemand verlangte von mir, ich solle stillsitzen.
Am liebsten ging ich zur Schwarze-Mutter, die im Gäßle hinter der Apotheke wohnte. Es gefiel mir so gut, daß der Bauer, wenn er in die Stube kam, aus dem Weinkrug trank, der auf der Komode stand, und die Schwarze-Mutter trank auch daraus, und ich gleich hinterher. Halbe Tage bin ich mit ihr auf dem Feld gewesen, und einmal, wie ich gegen Abend hinüber kam, stand der Wagen hoch voll Hanf vor dem Haus, und die Schwarze-Mutter sagte, daß sie in die Stadt zum Markt fahren. Da bin ich gleich aufgesessen, und hab gesagt: ich fahr mit! “Am end ists aber der Mama nicht recht?” meinte die Schwarze-Mutter. “Freilich,” hab ich gesagt, “allen ists recht in der Apotheke, wenn sie mich los sind.”
Drauf sind wir davon gefahren; der Bauer
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ist nebenher gegangen, die Schwarze Mutter und ich saßen hoch droben, und so gings langsam zwischen den Rebbergen hin, durch die Felder; am Himmel kamen die Sterne, und die Schwarze-Mutter wickelte mich in ein warmes Tuch und sagte: So fahren wir die ganze Nacht. Das machte mich unaussprechlich glücklich, nur merkte ich leider nichts davon, denn ich schlief gleich ein, und erwachte erst, als ich allerlei Stimmen um mich herum hörte. Da saß ich an einem langen Tisch in der Wirtschaft mit vielen Bauern zusammen, und die Schwarze-Mutter schenkte mir eine mächtige Schüssel Kaffee ein und legte mir rechts und links ein Weißbrot hin. Alsdann haben wir uns gar nicht gewaschen, sondern sind gleich auf den Markt gefahren, mit vielen andern Hanfwägen, und ich blieb droben sitzen und die Schwarze-Mutter handelte mit allerlei Männern, und endlich kaufte einer den Hanf und sagte: “Aber das Jünferle droben nehm ich mit in Kauf”.
Da bin ich sehr erschrocken und hab herunter
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geschrieen: “Nein, nein, ich bin ganz extra teuer, ich kost hunderttausend Gulden!”
Da haben sie alle gelacht, und wie mich gerad die Schwarze-Mutter herunter holt, wer steht da und droht mit dem Finger? der Apotheker Onkel!
“Schwarze-Mutter,” hab ich gesagt, “jetzt weiß ich, wer daheim eine Ohrfeig kriegt”-- da hat sie zu lamentieren angefangen, und dem Onkel immerfort die Hand gedrükt, und ihn gebeten, er solls doch nicht zulassen, daß mir was geschieht, sonst hätte sie keine frohe Stunde mehr im Leben.
Darauf sind wir nach Kenzingen zurück gefahren, und wer keine Ohrfeig gekriegt hat, war ich, Halleluja!
Zu Haus fing dann wieder das Elend mit dem Lernen an; wenn Tantele fragte: “Hast du deine Aufgaben gemacht?” gab ich die Antwort! “Den Kopf können sie mir nicht nehmen, ich überlaß mich dem Schicksal.”
Daraus entstanden höchst traurige Auftritte,
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aber so oft ich mir auch vornahm, mich zu bessern, es wurde nie etwas daraus, weil ichs eben immer wieder vergaß und gar so gern vergnügt war.
Im Religionsunterricht, als ich einmal wieder nichts wußte, habe ich zu meiner Entschuldigung gesagt:
“Gerad das Sätzle ist mir nicht in den Kopf gegangen.”
“Ja, ja, das habe ich schon gemerkt,” hat der Herr Oberstiftungsrat gesagt, “der ganze Katechismus ist voll von Sätzen, die dir nicht in den Kopf gehen; bleibe heute einmal von zwölf bis eins da und schau dir die Sätze genauer an.”
So mußte ich zum erstenmal in meinem Leben sitzen bleiben, und wurde eingeschlossen; als aber alles still in der Schule, machte ich das Fenster auf, warf meinen Ranzen auf die Gasse, und wie ich mich eben hinunterschwingen will – wer kommt um die Ecke? der Herr Oberstiftungsrat! Fast traf mich der Schlag!
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Er sagte aber: “ Potz tausend so so! na komm, ich will dir helfen.”
Da machte ich, daß ich heim kamm.
Einmal geschahs auf dem Ludwigsplatz vor unsrem Haus, wo wir spielten, daß uns die Buben überfielen, da habe ich mich fürchterlich gebalgt, und wie ich nach Haus komm, schlägt Mama die Hände zusammen, Papa lacht, daß ihm die Thränen aus den Augen laufen, und Tantele ist ganz außer sich und sagt:
“Daß wir so ein Kind haben müssen!”
Und wie ich in den Spiegel seh, habe ich eine ganz schiefe Backe, und alle Hahnenfedern auf meinem Hut sind ausgerupft.
Indem ich nun größer wurde, machte ich ein Gedicht, namens:
“Vater, der du die Mutter erschlugst” -- worüber sich Mama und Tante außerordentlich entsetzten, und Hermann mich alle Tage auslachte.
Das Ärgste aber, ich hatte den “Verschwender” gesehen, und es entstand in mir der Drang
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zur Kunst. Dies war Mamas größter Kummer, sie sagte mir, ich dürfe niemals in meinem Leben zum Theater, und weil ich weinte, gab sie mir wenigstens ein Täfelchen Schokolade. Hierauf wurde es dringend nötig gefunden, mich ins Institut zu tun, worauf ich alle Tage in eine Abschiedsvisite eingeladen wurde, und die zahlreichen Händel mit Hermann vollständig aufhörten.
Als am Tage der Abreise Mama zu uns sagte:
“Kinder, ihr müsst jetzt Abschied von einander nehmen” -- ist Hermann schnell mit seinem Schulranzen davongelaufen, und ich habe mich in Papas Kleiderschrank versteckt.
Als aber Tantele bei meinem Fortgehen weinte, wo ich doch nichts getan, als ihr das Leben verbittert hatte, da bekam ich einen Schmerz bis in den Hals hinauf, wie nie vorher im Leben.
Was ich aber nie geglaubt hätte, im Kloster ists wundervoll. Lustig darf man sein bis dort
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naus und Streiche ausführen so viel man will. Freundinnen habe ich gefunden wie Sand am Meer. Meinen lieben Lehrerinnen zu Lieb aber könnt ich still sitzen bis an mein Ende. Darum auch habe ich zur Weihnachtsüberraschung mit einigen Arbeiten nach Haus geschrieben: “Verzweifelt nicht, auch aus mir kann noch etwas werden, so Gott will. Amen.”