Vom Weg meiner Jugend (Autobiography)

Clara Viebig
Vom Weg meiner Jugend.

            Wer hätte in seiner Jugend nicht Dramen verbrochen, Dramen und Gedichte?! Wir alle – ob Jüngling, ob Mädchen. Ich auch. Aber ein glücklicher Stern hat mich vor Eltern bewahrt, die in mir ein Talent, eine besondere Begabung sahen. Damals freilich mag’s mich geschmerzt haben – ich weiß es jetzt nicht mehr genau – aber mir ist, als hätte ich, zähneknirschend, die Faust im Sack, heiße Tränen vergossen, als mein Vater bei der großartigesten Stelle eines Dramas, das ich in der Rechenstunde unterm Pult, während der Lehrer sich verzweifelt mühte, uns in die Geheimnisse der Algebra einzuweihen, niedergeschrieben hatte, trocken sagte, “Bautz, da liegt er!”

            O, dieses, “Bautz, da liegt er!” Ich habe es nie vergessen. In alten Marquishosen meines großen Bruders, die er zu einer Maskerade getragen hatte, spielte ich den edlen Räuber, der das Fräulein aus dem Grafenschloß raubt, es wahnsinning liebt, wahnsinnig wiedergeliebt wird, sich aber, als ihm die alte Zigeunermutter der Bande entdeckt, daß auch er ein geraubtes Grafenkind sei, und zwar gerade dieses Fräuleins Bruder, ohne Besinnen das Messer in die Brust stößt. Mit einem dumpf gegurgelten: “So leb’ denn wohl!” stürzt er vornüber zu den Füßen der Angebeteten zusammen. Alle Glieder schlug ich mir beim jähen Fall, meine Nase berührte unsanft die Stiefelchen des holden Fräuleins, aber hätte sich auch meine Stirn an der Diele zerschmettert, ich hätte keinen Schmerz gefühlt; nur dieses ‘Bautz!’ das ging mir durchs Herz wie ein wahrhaftiger Dolchstoß. Ich vermochte es nicht zu fassen, daß jemand so etwas sagen konnte, wo mir’s doch so heiliger Ernst war.

            Und doch, du guter Vater, was schulde ich dir nicht alles an Dank! Mit einer einzigen Bemerkung hast du mich aus verstiegenen Höhen heruntergeführt zur Wirklichkeit;  die dünkte mir damals zwar platt, alltäglich, trivial, ganz und gar unpoetisch, und barg doch so viel wahre, echte Poesie unter ihrem schlichten Kleid. Man muß nur die richtigen Augen haben.

            Alter Schwanenmarkt in Düsseldorf, eintöniges Viereck, um das eintönige Häuser stehen, alle sich gleich, alle gleich hellgetüncht, alle gleich hoch, alle mit drei Fenstern neben der Haustür und im Stockwerk darüber mit vieren, verzeih! Damals sah ich noch nicht, daß unter deinen Linden, die an verschwiegenen Sommerabenden mit ihren breiten Schatten kosende Mägde und ihre Schätze decken, die Poesie der rheinischen Stadt lustwandelt. Damals wußte ich noch nicht, daß übers gleichförmige Häuserkarree ebensoviel Sonnenglanz und Mondesträume ausgegossen sind, ebensoviel der Entzückungen, der Wunder dahinziehen, wie über eine Zauberwelt.

            Heinrich Heines Stadt – was wußte ich damals von Heinrich Heine! In der Schule hatte ich nichts von ihm gehört.

            Aber es kam ein Tag, da fand die Zwölfjährige unter den Büchern der Mutter, die im guten Zimmer auf einer an der Wand hängenden kleinen Etagere standen, ein Buch, das war rot wie Blut, mit Passionsblumengerank auf dem Deckel und mit einem weißseidenen Bändchen als Lesezeichen. Und die Halbwüchsige schlug’s Büchlein auf und steckte neugierig die Nase hinein: was Interessantes? O ja, etwas Interessantes: weit mehr als das! Sie vergaß, daß sie abstauben sollte, vergaß die so und so vielmal herum, die ihr die Mutter am Strickstrumpf aufgegeben hatte, vergaß das Klavierüben und die fanzösische Übersetzung. Gott sei Dank, daß so selten jemand in die gute Stube kam!

            Auf dem Tritt unterm Fenster kauerte ich, die langen Beine hochgezogen, die Hände um die Knie geschlungen; und auf diesen mageren Kinderknien lag das rote Buch. Ich las und las. Wie warmes, lebendiges Blut quoll es auf von dem roten Büchlein – es stieg mir zu Kopf, es quoll mir zu Herzen, jetzt stand mein Herz fast still vor Qual, jetzt hüpfte es wieder hoch empor vor Seligkeit. O, dieses ,Buch der Lieder’ was etwas andres, als die Gedichte, die man in der Schule lernt! Was waren selbst Schillers Taucher, Freiligraths Blumenrache und Chamissos Löwenbraut hiergegen?! Hier was etwas ganz Neues, nie Gekanntes, nie Gefühltes, nicht einmal Geahntes! Das lebendige Leben mit seinen Freuden und seinem Weh, mit seinem Lieben und seinem Hassen klopfte bei mir an. Über die unberührte Seele stürzten die Empfindungen; die wand und krümmte sich unter der gewaltig einbrechenden Flut, fast wäre sie gern wieder losgekommen – es war ja manches so traurig, so schrecklich – aber, was war das doch so schön! Die Augen mußten lesen, lesen, wenn auch Tränen den Blick verdunkelten

            “Clara!” Das klang wie die Posaune des Gerichts. “Clara, wo bist du?!”

            Zitternd fuhr die Missetäterin auf beim Ruf der Mutter, zitternd stellte sie’s Büchlein an seinen Platz. Ja, das war keine passende Lektüre für ein Schulmädchen, das fühlte sie wohl – still, nur still, daß die Mutter nichts davon merkte!

            Ich erinnere mich noch sehr genau, wie mir an jenem Abend zumute war, als ich, das heimlich entwendete ‘Buch der Lieder’ in der Tasche, mein Stübchen aufsuchte. Banger und doch seliger kann keinem Mädchen zumute sein, das sich mit dem Geliebten das erste nächtliche Stelldichein gibt. So selig-bang war mir. Ich las im Bett beim Schein eines miserablen Lichtstümpfchens wieder und wieder diese Liebesgedichte, die auf die Jugend aller Zeiten einen so unbeschreiblichen Eindruck machen werden, eben weil sie selber so unbeschreiblich jung sind.

            Wie im Traum ging ich die nächsten Tage umher, blaß, mit einem verwirrten Lächeln. “Was hat die Clara?” fragte mein Vater. Ja, das sagte sie nicht! Sie hatte etwas ganz Besonderes, das trug sie in sich wie einen verborgenen Schatz. Anstatt gleich nach der Schule heim zu gehen, rannte ich jetzt in die Straße der Altstadt, wo Heinrich Heine einst geboren worden war, stellte mich da auf und gaffte die alten Giebelhäuser an: welches von den vielen war es? Noch zeigte keine Tafel den Namen ‘Heinrich Heine’, aber was tat’s, die ganze alte Straße, die Luft, der Boden waren voll von ihm. Ich sehe den Rhein fließen vorbei am alten Schloß, darin der Schelm von Bergen den Reigen mit der schönen Fürstin schlingt – ich sehe die Stadt wie ein Nebelbild am Ufer des Stroms mit ihren Türmen emporsteigen – ich höre die Glocken der Jesuiterkirche da hinten dröhnen und hallen, - Gebete murmeln, Wallfahrtslieder erklingen, sie ziehen aus nach Kevelaer, die Mutter und der Sohn mit in der Prozession – ich höre das Hündchen bellen und suche das Hühnerhäuschen, darin die Kinder Verstecken im Stroh spielen – dieses alles sehe, höre, fühle, erlebe ich. Ja, hier ist ein Dichter gegangen, und ich darf ihm nachgehen mit schüchternem Tritt! –

            Ich habe dann mein heimliches Glück doch nicht allein für mich behalten können. Zuerst erzählte ich der Nachbarstochter davon, und als diese hoch und heilig versprach, mich nicht zu verraten, las ich ihr an einem verschwiegenen Ort aus dem Buch der Lieder vor. Ich las mich in einen Rausch hinein, und auch sie wurde davon mitergriffen. Ob wir alles verstanden haben? Ich bezweifle es; aber etwas hatten wir sicher verstanden: die Musik der Verse, den köstlichen Wohllaut. Und ein Respekt kam mich an vor solchen Versen – wo solch ein Dichter gedichtet hatte, durfte da noch jemand anderes dichten ?!

            Solcher Respekt hat mich mein Leben lang nicht verlassen. Ich habe immer eine ehrfürchtige Scheu vor der Kunst gehabt, so daß es lange, lange gedauert hat, bis ich mich selber an sie herantraute. Die Jugend ist mir fast darüber hingestrichen, denn was ich als junges Mädchen heimlich erdachte und niederschrieb, das ist auch heimlich geblieben; ich habe es zwar noch nicht verbrannt, es liegt ganz hinten in einem Fach meines Schreibtisches, aber ich lasse es niemanden lesen, und wenn ich selber einmal hineinblicke, dann klappe ich geschwind wieder zu und sage mir: doch gut, daß nicht alles gedruckt wird!

            Der Vater hat es nicht mehr erlebt, daß die Tochter Schriftstellerin geworden ist. Ob er sich wohl darüber gefreut hätte? Ich glaube es. Er hatte einen freien Geist, einen Geist, wie man ihn nicht allzu häufig in den engen Schranken preußischen Beamtentums findet; einen Geist, der stark war in einem schwachen Körper. Ich erinnere mich meines Vaters nur als eines kranken Mannes; den hageren Körper ein wenig vorgeniegt, hatte er in den tiefliegenden blauen Augen unter der hohen Stirn ein Leuchten, das nicht mehr von dieser Welt war. Ein stiller und ernster Mann. Einen fröhlichen Vater habe ich nie gekannt, und doch hat dieser ernste Mann mit dem schneeweißen Haar sein junges Kind so gut verstanden. Das beste meiner Kindheit waren die Stunden, die ich bei ihm verbringen durfte.

            Dämmerung war’s, die Akten waren abgetan, er hatte sich in dem kleinen Arbeitszimmer müde aufs Sofa gestreckt. Ich kauerte auf dem gestickten Teppich vor dem Sofa und hatte dem Vater beide Arme auf den Schoß gestreckt: “Erzähl’ mir was!” Dann legte er die Offenbarung Johannis, in der er viel zu lesen pflegte, beiseite, und seine magere, ach, oft so heiße Hand auf meinem Haar ruhen lassend, sagte er zärtlich: „Meine Töchterchen! Erst erzähle du mir – was hast du heut getrieben?”

            Wie hätte ich etwas verschweigen können?! Vor dem Blick dieser tiefen, blauen, entrückten Augen gab’s kein Geheimnis. Und immer fand ich Verstehen, Verzeihung, eingehendste Liebe. Unter dem kaum fühlbaren Druck dieser mageren, trockenen, fiebernden Finger glättete sich mein oft gar wirres Denken. Und die kindische Unruhe eines jungen Herzens, das so hastig schlug, das so viel wollte – ach, viel zu viel! – ging unter im Frieden einer abgeklärten Resignation. Es mögen wohl Worte der Weisheit gewesen sein, die der weißhaarige Mann zu dem blonden Kinde gesprochen hat. Gescholten hat mich mein Vater nie; ich habe ihm alles gestanden, jede Unart, jeden trotzigen Gedanken, er hatte immer ein mildes Nicken dafür, und als ich ihm von Heine sprach, da hat er fein gelächelt: “Noch etwas früh, mein Töchterchen! Aber der Vorteil ist größer als der Nachteil. Lies du nur, lies!” Und das machte ich mir zunutze. Was half es, daß meine Mutter wehrte, daß sie schalt über die “ewige Leserei”, ich hatte den Vater zum Verbündeten. Neben uns wohnte ein alter Mann, Herr Meuser, ein Kohlenhändler; ganz plötzlich auf einer Geschäftsreise hatte ihn der Schlag getroffen. Nun saß er finster und unbehilflich in seinem Soregenstuhl, und all die vielen Bücher, die er sich in seinem Leben zusammengetragen hatte, bald hier, bald da – ohne Wahl – konnten ihm die Langeweile nicht vertreiben. Er war ja blind, blind; um ihn undurchdringliche Nacht.

            “Kommst du, mein Auge?” fragte er erwartungsvoll, wenn die Tür leise knarrte; und sein finsteres Gesicht hellte sich auf.

            Ich war schon am Bücherschrank. Und dann las ich ihm vor, ohne Wahl, wie es gerade kam: Eugen Sue, Lord Lytton Bulwer, Flygare Carlén und Honoré de Balzac, Walter Scott und Victor Hugo – Gott weiß was noch alles! In miserablen Übersetzungen, in einem Deutsch zum Erbarmen. Es stand viel Minderwertiges in diesem Bücherschrank; neben dem Guten das Schlechte, neben dem Schönen das Anstößige. Ich habe das Anstößige nicht gefühlt; mit eintöniger Kinderstimme schnatterte ich darüber hinweg. O, wie recht hat mein Vater gehabt! Das Lesen hatte gewiß einen Nachteil, einen großen Nachteil, ich las mich fast krank, aber der Vorteil war doch noch größer.

            Vom blinden Herrn Meuser her stammt meine erste Bekanntschaft mit der Weltliteratur. Und die setzte ich fort, als meine Eltern mich zu ihren Freunden, einem alten Ehepaar – Landgerichtsrat Mathieu – ein Jahr nach Trier, wo sie vor Düsseldorf gelebt und wo ich geboren worden war, in Pension taten. Mein Vater wurde immer kränker, meine Mutter war immer bekümmerter um ihn bemüht, unser Haus war kein Haus mehr, in dem ein junges Leben sich sorglos entfalten konnte. Und sie wollten mir doch Sonne geben, die Sonne einer so unbekümmerten Lebensfreudigkeit, wie sie dem guten Onkel Mathieu aus jedem Fältchen seines humorvollen Gesichts lachte, aus jedem schalkhaften Zucken seiner Mundwinkel blitzte. Wie sehr habe ich diesen Mann geliebt! Wenn ich jetzt durch die Straßen meiner alten Vaterstadt Trier schreite, ist es nicht die einst versunkene und wieder auferstandene Größe der römischen Baudenkmäler, die mich mit einem Schauer der Ehrfurcht überrieselt; nicht die sanfte Lieblichkeit der blauen Mosel, nicht die malerischen Formen der roten Felsen, hinter denen die Eifelberge grünen, bewegen meine Seele – mein Herz ist hier weich und liebevoll, weil es an Onkel Mathieu denkt. Hier bin ich einst neben ihm hergeschlendert, hier sind wir Hand in Hand die Mosel entlang gewandert, hier sind wir in die Eifelberge hinaufgestiegen. Wie hat es mich oft gepackt da oben, damals als junges Ding, daß ich mich am grünen Rain niederwarf und laut jauchzte, so laut, daß die Einsamkeit wieder jauchzte! Noch sehe ich das eingentümliche Schmunzeln um den Mund des alten Herrn, wenn ich, vor Lust mich nicht su lassen wissend, wie berauscht von Wein – ach, wir hatten doch gar keinen getrunken, nur Luft, Heimatluft, Moselluft, Eifelluft – mich stammelnd an seinen Hals warf: “Ich bin so glücklich!”

            Diese Eindrücke sind die Keime für meine ersten Eifelgeschichten gewesen. Onkel Mathieu war Untersuchungsrichter; wenn er mit seinem Sekretär auszog, um Tatbestände aufzunehmen, um Obduktionen beizuwohnen, so zog ich mit aus, das heißt, man setzte mich in irgendeinem Wirtshaus ab und empfahl mich der Obhut der Frau Wirtin. Es dauerte oft lange, bis die Herren ihre Geschäfte erledigt hatten, aber mir wurde die Zeit nicht lang. Wirtinnen sind meist gesprächig, sie wissen zu erzählen; und ich wußte zu fragen.

            In den kleinen Eifelgärten, wo wild durcheinander Unkraut und brennende Liebe, Kartoffeln und Sturmhut, Feuerlilien und Nachtschatten wuchern, hörte ich manche Geschichte von Liebe und Haß, von frommem Gelübde und verbrecherischer Schuld, von Wallfahrtswundern und gebrochener Treue, von Habgier, von Mißgunst. Wie draußen in der weiten Welt, so war’s auch hier in der Einsamkeit. Nur daß die Leidenschaften hier gewaltiger wachsen, sie wachsen ungezügelt, sie werden reisengroß.

            Die Sonne prallte heiß aufs Hochland, das Blut stieg mir zu Kopf; nicht alles taugte für Mädchenohren. Und was die Zurückkehrenden erzählten – ich ließ ja keine Ruh, ich mußte es ja wissen, was der Richter in seinen Akten aufgezeichnet hatte – das war auch nicht gerade geeignet für ein Pensionsfräulein. Aber hat es mir geschadet? O nein! Ich bin dem Volk in seinem Denken und Empfinden nahegekommen. Ich bin wohl erschaudert beim derben Tritt, mit dem es die Erde stampft; niedergetreten wird vieles unter nägelbeschlagener Sohle, alles was schwach ist und lebensunkräftig. Erbarmungslos ist das Volk, hart, aber es kann auch lieben urkräftig, es folgt seinen Trieben unbefangen und schämt sich ihrer nicht.

            Der gute Onkel hatte oft zu zügeln – das Derbe zog mich an, - aber ich merkte es an seinem Schmunzeln, von Herzen kam ihm solche Rüge nicht. Er gab mir zu lesen, viel zu lesen; Tieck und Brentano liebte er sehr, ich lernte sieh auch lieben. Das Volkstümliche im ‘Blonden Ekbert’ und in der ‘Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl’ fesselte mich.

            Mein erster schriftstellerischer Versuch fällt in diese Zeit des sechzehnten Jahres. Longfellows ‘Hiawatha’, den ich beim Onkel englisch gelesen hatte, übersetzte ich ihm metrisch zu seinem Geburtstag. Es war ihm eine große Genugtuung und mir keine große Mühe; wo die Übersetzung hingekommen ist, weiß ich Gott sei Dank nicht.

            Heinrich von Kleist stand auf dem Ehrenplatz in Onkels Bibliothek, und wenn er mir auch nicht so süß einging wie der erste Teil des Faust, mich nicht so mit fortriß wie der Werther, so beschäftigten mich doch die Kleistschen Novellen, insonderheit Michael Kohlhaas, sehr lebhaft; wie mich denn überhaupt von jetzt ab Prosa immer mehr anzog als Verse. Für Schiller habe ich damals gar keine Neigung gehabt; es ist mir auch später schwer geworden, ein Verhältnis zu ihm zu finden. Ich weiß nicht, war er mir in der Schule verleidet worden, oder reizte mich das stete ‘Die Jugend muß Schiller lesen’ zum Widerspruch? Oder sträubte sich etwas in meiner Natur gegen dieses beständige Heranziehen jener Götter, die in Marmor unter tiefem Blau, umrauscht von Myrtenhainen, lebendiger wirken mögen: die mir aber unter unsrem deutschen Himmel tot, nackt, kalt, wie Puppen erschienen. Sie machten mir Schiller unangenehm; ich wurde ungerecht und habe fast darüber vergessen, daß er uns einen Tell schenkt hat. - -

            Der gute Onkel Mathieu ist längst dahingegangen, wenige Jahre nach meinem Vater habe ich auch ihn verloren, und mit ihm schwand die literarische Anregung aus meinem Leben. Meine Mutter las wenig, und was sie las, entsprach nicht meinem Geschmack. Sie, eine Pastorentochter, sehr jung an den viel älteren hohen Beamten verheiratet, war nie aus dem engen Kreis herausgekommen, den Herkunft und Lebensstellung um sie gezogen hatten. Wir waren oft uneins; sie gehörte noch ganz zum alten Schlag, sie hatte keine Ohren für den in unsrer modernen Zeit immer lauter und lauter werdenden Ruf: die Jugend muß sich ausleben. Für sie gab es noch kein Recht der Kinder, nur ein Recht der Eltern: das Recht, ihre Kinder ganz dem eignen Geschmack, den eignen Ideen nach zu erziehen. Es kam mir hart an, meine Wünsche und mein Wollen über Bord zu werfen; die Mutter war die stärkere, ich habe mich allezeit beugen müssen. In dieser zarten kleinen Frau, mit dem auch bei vorgeschrittenen Jahren noch mädchenhaft lieblichen Gesicht steckte eine Kraft, eine Unbeugsamkeit, deren eiserner Disziplin die große Tochter sich einfach fügen mußte. Erst in reiferen Jahren habe ich erkannt, was ich dieser seltenen Frau zu danken habe. Von ihrer Unermüdlichkeit, von ihrem Fleiß, ihrer Ordnungsliebe, ihrem Pflichtgefühl hat sie mir etwas mitgegeben; aber auch – was man vielleicht auf den ersten Blick nicht bei ihr gesucht haben würde – das Erzählertalent. Von meiner Mutter muß ich’s haben, das ist gewiß; mein Vater war ein schweigsamer Mann, sie aber konnte beredt sein.

            Was sie mir von ihrer Heimat erzählte, der fernen Provinz Posen, die ich bis zu meinem zwanzigsten Jahre nur aus ihren Erzählungen kannte, wie sie die Christnacht schilderte in der alten Kirche zu Schwersenz, die Rosen und die Lilien im Pfarrgarten, die Besuche der großen Herren, die vierelang beim Geistlichen vorfuhren, die schweren Tage der Pfarrfrau, die mit ihren unmündigen Kindern, plötzlich des Vaters, des Ernährers beraubt, in drückendsten Verhältnissen zurückblieb – das alles entbehrte nicht der poetischen Kraft. Und wenn sie dann von jenem Tage sprach, an dem sie, als junge Frau am Fenster stehend, zusah, wie drunten auf Karren und Leiterwagen die unglücklichen Soldaten vom Dorfe Buk her in die Stadt Posen gebracht wurden, mit abgeschnittenen Nasen und Ohren, verstümmelten Armen und Beinen, halb verblutet unter den Messern fanatischer Weiber, dann wuchs die polnische Revolution gewaltig vor mir auf. Ich hörte das Dengeln der Sensen, ich sah deren breites, blitzendes Blank sich blutig färben unterm Mähen der Sensenmänner, ich sah den weißen Falken fliegen auf rotem Panier und hörte das wahnwitzige Gebrüll der Menge:

            “Noch ist Polen nicht verloren –

Niech zyje Polska!”

            Das Jahr 1848 führte meine Eltern nach Fankfurt am Main; mein Vater saß im Parlament als Abgeordneter für Posen. Es gehörte schon in meinen Kindertagen zum hohen Genuß, wenn die Mutter sich bereit finden ließ, von Uhland und den Brüdern Grimm zu erzählen, von Robert Blum und Karl Vogt, von General Auerswald und dem schönen Fürsten Lichnowski, dem ritterlichen Elegant, der auf der Bornheimer Heide ein so klägliches Ende gefunden hat. Die lebten alle; mit allen kleinen und großen Schwächen, mit allen inneren und äußeren Vorzügen, mit allen Mängeln und allen Tugenden standen sie da.

            Und was ist mir das Jahr 1870/71 durch meine Mutter geworden! Ein Ereignis, als hätte ich’s schon mit vollem Verständnis miterlebt. Sie hatte damals im Lazarett gepflegt; Franzosen und Preußen, Bayern und Pommern, Schwaben und Westfalen hatte sie leiden und genesen, aber auch leiden und sterben sehen. Auch ich bekam das alles zu sehen, dank der Freudigkeit, der Begeisterung, mit der die Mutter von jener großen Zeit sprach; dank der blühenden Farben, mit denen ihre anschauliche Kraft jene Bilder malte. Und später hat die Großmutter meines Knaben Träume bevölkert mit ihren Turkos und Zuaven, mit ihren Braven von Spichern, mit ihren Helden von Gravelotte, mit dem Bazaine in Metz und dem Napoleon bei Sedan. Und sie hat ihn aus dem Schlafe geweckt mit dem Läuten aller Glocken, mit dem Gesang der Schulkinder, die die Straßen der Stadt durchjubeln:

            ‘Es braust ein Ruf wie Donnerhall

            Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:     

            Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!

            Wer will des Stromes Hüter sein?’-

            Ich habe meiner Mutter den Roman ‘Die Wacht am Rhein’ gewidmet; ihr verdanke ich ihn ja. Und vielleicht verdanke ich ihr auch noch einen andern – wenigstens die erste Anregung dazu – die Anregung zu ‘Das schlafende Heer’.

            Mein Vater war Gutsbesitzerssohn aus dem Land des schlafenden Heeres; seine Vorfahren waren seit hundert Jahren, seit viel länger schon, dort angesessen, und es hatte einen eigenen Reiz, Mutter vom altem Stamm gut Rokitten erzählen zu hören, auf dem der Schwiegervater die junge Frau des ältesten Sohnes recht als ein großer Herr empfing, mit ihr durch die Felder jagte und dem schönen Töchterchen stolz seine drei Güter wies: Rokitten, Rhyn und Golmütz. Wo sind die drei nun hin? Der alte Samuel Viebig, meines Vaters Großvater, der im hellblauen Frack unterm schlicht gescheitelten langen weißen Haar sehr energisch in unsrem Eßzimmer von der Wand blickt, würde wenig zufrieden sein, daß nur noch auf Rokitten ein Viebig sitzt. Er war der Mehrer der Güter, und wenn er den polnischen Herren, die es nicht anders taten als vierelang bei ihm vorzufahren, mit vier Ochsen den Besuch erwiderte, so war er auch allezeit ein Mehrer des Deutschtums; es wagte keiner zu mucken. Auch an dem Deutschtum in der Provinz würde der Alte jetzt seine Freude nicht haben.--

            Als meine Mutter und ich nach Berlin zogen, um dort mein Talent für die Musik ausbilden zu lassen, wurde auch mir die Heimat der Eltern eine Heimat; durch dreizehn Sommer war ich auf Gütern meiner Verwandten, teils im deutschen, teils im polnischen Teile der Provinz, ein monatelanger Gast.

            Welche Vorurteile ich auch am Rhein gegen die Provinz in mich aufgenommen hatte, und so seltsam, so fremdartig mich auch zuerst diese endlosen Rüben- und Weizenfelder anmuteten, ich lernte doch bald, daß auch dieses Land des Ackerbaues, der Ebenen und der Seen seine Schönheiten hat. Diese unbegrenzte, sonnenflimmernde Weite, in der das Korn reift, ist schön; diese tauig-kühlen Nächte sind schön, in denen es so köstlich ist unter der reichbesäeten Himmelsglocke dahinzufliegen. Die Pferdchen traben. So hoch, so groß und still wölbt sich das Sternenzelt.

            Nichts hört man, als das Locken einer Wachtel im Korn und fern, fern im Dorf, dessen Lichtlein am Horizonte flimmern, das Dengeln einer Sense. Man hört so weit in der großen Stille, das Ohr schärft sich, es gewöhnt sich, den leisesten Laut aufzufangen. Und die Augen schärfen sich auch; der Blick wird sicherer, nicht nur jedes Kirchturmspitzlein über der blauen Linie des Kiefernwaldes späht er aus, jedes Rauchwölkchen, das einsamen Weilern entsteigt, er lernt auch das kleinste liebevoll sehen: die Spur des Hasen im sandigen Weg, das Nest des Zaunkönigs im struppigen Buschwerk. Der Fülle und Schwere der Ähren lernt er prüfend achten, und wie dem Habicht entgeht auch ihm keines der winzigen Rebhühnchen, die hinter der Mutter her zierlich die Ackerfurche durchtrippeln.

            Wenn ich jener unbegrenzten Weiten gedenke, durch die ich oft ganz allein mit den Ponies kutschiert bin, kommt mich eine Sehnsucht an nach dem mehligen Duft der sonnvergoldeten Ährenfelder; nach dem strengeren Harzgeruch der blauenden Kieferwälder, in denen die Räder langsam und lautlos durch sandige Wege mahlen; eine Sehnsucht nach dem demütigen Gruß fleißig schaffender Landleute. Wieder möchte ich mir das Ährensträußchen mit flatterndem Band von der knicksenden Marynka an die Brust heften lassen, mich “binden” lassen vom lachenden Volk der Schnitter; wieder einmal die roten Röcke der Mägde, mohnblumengleich, im Tanze wirbeln und bei der Schafschur die rosige Haut des Lammes unter den fallenden Locken der Wolle aufschimmern sehen. Wieder krebsen am See beim Fackellicht, den dummen Gesellen, der, vom Schein angelockt, unterm Stein am Ufer hervorkriecht, flink mit zwei Fingern von oben packen und in den Sack auf dem Rücken schleudern; wieder im hohen Röhricht des Sees den Kahn festfahren, still dort die Angel auswerfen; die Spitzen des Schilfes im Winde sich neigen sehen, sich einlullen lassen vom lispelnden Flüsterhauch, vom verschlafenen Glucksen der Wellchen am Kiele des Boots.--

            Was mir Berlin, das Häusermeer, mit seinen Steinen und Schloten, mit seinen Dünsten und seinem Staub, mit seinen Sorgen und Kümmernissen jahrsüber auf die Seele geladen hatte, das hat mir der Sommerhauch des Posener Landes allemal wieder heruntergeblasen; und ich bin neu geworden.

            Sie waren nicht leicht, diese Berliner Jahre; es liegt viel Ringen in ihnen, inneres und äußeres, ein steter Kampf, viele Enttäuschungen und manches Leid, von dem man nicht spricht.

            Die Musik war nicht das Feld, auf dem ich mehr als eine Dilettantin werden sollte; und doch, wäre mein Ohr durch sie nicht geschärft und geübt worden für Rhythmus und Harmonie, wer weiß, ob ich es je gelernt hätte, das Wort nach Klang und Wert, den Satz nach Melodie und Takt abzuwägen. Es ist ein herliches Instrument, unsre deutsche Sprache, aber die Finger müssen feinsühlig sein, das Ohr feinhörig, wenn es uns gelingen soll, darauf zu spielen.

            Meine Gesangstudien waren beendet , aber Erfolg, volles Gelingen, Befriedigung haben sie mir nicht gebracht – Erfolg, das hieß vorerst: Verdienst. Denn ich sollte, wollte, mußte verdienen. Ein Teil unsres kleinen Kapitals war verloren gegangen, bei meiner Mutter meldete sich ein schweres Leiden; pekuniäre Sorgen, die grausam drückten und die doch für mich ein Segen waren, triben mich dazu, neben den wenigen Musikstunden, die ich zu geben hatte, es mit ein paar kleinen Erzählungen zu versuchen. Sie gefielen; vielleicht weil sie so anspruchsloswaren – freundliche Bilder, rheinische Jugenderinnerungen – vielleicht auch, weil es gute Menschen waren, die sie zuerst in die Finger bekamen. Vielleicht auch, weil ich selber nicht groß von ihnen dachte. Man sagt oft, man müsse Selbstbewußtsein haben, um es in der Kunst, um es überhaupt im Leben zu irgend etwas zu bringen; ich bezweifle das. Ich hatte zu meinem Glück kein Selbstbewußtsein, und ich weiß bestimmt, hätte ich es gehabt, so wäre ich da stehen geblieben, wo ich damals stand mit meinen kleinen rheinischen Skizzen.

            Ich war wohl froh, ehrlich froh, Geld zu verdienen, aber ein Frohsein, bei dem die Seele sich freut, bei dem sie jauchzt, sich erhebt aus dem Alltag, solch ein Frohsein war das nicht. Unklar fühlte ich: das, was ich schrieb, war fernab von Literatur. Aber wie hin zu ihr kommen, wie sie erreichen, die wahrhafte, die einzige, die wirkliche Kunst?!

            Da gab mir ein Freund Zola zu lesen. Er wußte wohl, was er unternahm, als er mir den Band in die Hand drückte, und hatte Bedenken: würde mir das auch wirklich gut tun? Er hoffte es; aber was er mir damit getan hat, das hat er freilich doch nicht geahnt.

“Germinal” wurde mir eine Offenbarung. Ich las es heimlich, meine Umgebung hätte durchaus keinen Gefallen an dieser Lektüre gefunden. Aber ich, aber ich! Ich fieberte, ich zitterte, ich war wie niedergedonnert; ein Blitz hatte mich hell durchfahren, ich lag zerschmettert, aber – jetzt sah ich. O diese Kraft, diese Größe, diese Glut der Farben, diese Gewalt der Sprache, diese Fülle der Gesichte, diese Leidenschaft der Gefühle! So muß man schreiben, so! Ohne Rücksicht, ohne Furcht, ohne scheues Bedenken. So, nur so kann man jene Leiter erklimmen, die steil und senkrecht zu Höhe der Literatur hinanführt.

            Was Brutales da war, was des Zuviel bei Zola ist, sah ich damals noch nicht; ich bewunderte nur, staunte an ohne Kritik, mit fortgerissen von der gewaltigen Kraft dieses Riesen.

            Und wenn ich hundert Jahre alt würde, ich würde den Tag dieses Eindrucks nie vergessen; er ist bestimmend für mich geworden. In den Winkel flogen die rheinischen Skizzen – nein, nein, nicht mehr so “wie früher”! Und wenn auch kein Mensch mehr etwas von mir drucken würde, und wenn meine Verwandten, meine Freunde sich auch beleidigt von mir wenden würden, und wenn ich verhungern sollte, ich würde von jetztab anders schreiben: ohne Phrasen, ohne Zierlichkeit, ohne Schönfärberei. Ganz nackt meinetwegen sollten die Gestalten dastehen, nur ehrlich, ehrlich! Ich war wie im Taumel; ich setzte mich hin und schrieb in zwei Tagen eine größere Erzählung: “Die Schuldige”. Es war ein Stoff, den ich schon lange in mir herumgetragen hatte – ungeahnt – nun tauchte er plötzlich wieder auf; er stammte noch aus jener Zeit, als ich den Onkel Mathieu auf seinen Untersuchungsreisen begleitete.

            Keine Redaktion nahm “Die Schuldige” an. Ich war wohl traurig darüber, aber ich schrieb doch so weiter.

            Und ich habe nie mehr so “wie früher” geschrieben.

 

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