Das heiße, leidenschaftliche Tempo, in dem die Zivilisation in den letzten 50 Jahren förmlich mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtsrast, grenzt ans Wunderbare. Es gab aber auch Zeitperioden des Beharrens, wo die Zeit sehr viel Zeit hatte, wo es schien, als partizipiere sie an Eigenschaften lebendiger Wesen, als bedürfe sie des Ausruhens nach außerordentlichen Kraftausgaben.
Auf die stürmischen Husarenritte der großen französischen Revolution, der Welt – und Befreiungskriege, der Entdeckung der Dampfkraft und ihrer Verwertung folgte eine Erschöpfungspause, eine lange Ruhe zum Sammeln neuer Kräfte.
In ein solches Zeitalter bin ich hineingeboren. Eine sachte, zahme Zeit, eine Zeit ohne
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Jugend, ohne Rausch. Eine Zeit wie für alte Leute.
Weit, weit zurück liegen meine Erinnerungen an die Kinderjahre, zurück bis zu den Zeiten, wo es noch keine Omnibusse gab; selbst in den kühnsten Phantasien tauchte noch nicht der Schatten eines Autos auf. Aber klapperige Droschken gab’s, die für fünf Groschen die weitesten Strecken auf holperigem Pflaster durchrasselten. Sie wurden wenig benutzt. Fahren war Luxus. Es ließ sich ja auch so gemächlich schlendern über die stillen Straßen und Dämme; keine Gefahr, gerädert zu werden.
Ja, ja, ihr lieben Leute, vor 60 oder 70 Jahren sah es in Berlin anders aus als heute, sagenhaft anders. Eine kleine, kleine Welt – heut eine große, große Welt.
Die Telephone waren noch nicht einmal Luftschlösser, mit der Tendenz, sich zur Erde niederzulassen. Dagegen gab es Rinnsteine – übelriechenden Angedenkens – aber keine Wasserleitung. Wenn wir Kinder Sonnabends
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gebadet wurden – hoffentlich nicht alle 16 in demselben Wasser – mußte das kalte Wasser eimerweis (klingt legendenhaft) aus dem Hofbrunnen geholt werden. In großen Kesseln wurde es auf dem Herd heiß gemacht.
Zwar waren die Kienfackeln längst erloschen, das Talglicht brannte nur noch in den Hütten der Armen, aber kein Gas, keine Elektrizität spendeten ihre gloriosen Lichtfluten: Abend – und Nachtsonnen gleichsam, die nordischer Winter Trübnisse fortstrahlen, freilich auch das üppige Nachtleben Berlins begünstigen.
Selbst die Petroleumquellen hatten sich noch nicht geöffnet. Mit Öllampen fristete man spärlich seine abendliche Existenz; Lamben, die man füglich Nägel zum Sarge der Dienstboten nennen konnte, so schwierig war ihre Instandhaltung.
Gar nicht aufzuzählen, was es damals alles nicht gab. Nicht einmal Feuerbestattungen (die doch den Vorteil haben, daß man sich im Grabe nicht umzudrehen braucht, wenn da
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oben Gräßliches geschieht) und keine Massage, der Rettungsanker zu beleibter Weltdamen.
Und – werdet ihr’s glauben? – keine Blusen! Heut für Haus und Reise das unentbehrlichste Kleidungsstück. Vor ungefähr fünfzig Jahren heckte die kühne Phantasie eines sensationslüsternen Schneiders die ersten Blusen aus. Feuerrote Flanellblusen warens. Garibaldiblusen nannte man sie.
Vor dem Potsdamer Tor hörte die Stadt so ziemlich auf. Ein wirkliches Tor, mit gewaltigen eisernen Flügeln, vor denen Leute mit Körben oder Taschen, die von draußen kamen, nach Konterbande von Mehl oder Fleisch (zu verzollende Waren) inquiriert oder gar visitiert wurden.
In dem ersten Teil der Potsdamer Straße standen in Zwischenräumen unansehnliche Häuser, jenseits des Landwehrgrabens (jetzt Kanal) nichts. Sandflächen wechselten mit Wiesengründen und spärlichem Baumwuchs ab, teilweise benetzt und gegrentzt von den altersmüden Gewässern des Landwehrgrabens.
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In nächster Nähe des Wassers lagen die beliebten Gartenlokale von Moritzhof und Albrechtshof. An schönen Sommer oder sonigen Wintertagen machte der Berliner dahin Ausflüge.
Im Winter lief man auf dem Graben Schlittschuh und labte sich nacher in den kleinen dunstigen Stuben von Moritzhof and heißem Kaffee und Kuchen. Im Sommer schleckte man in den Gärten saure Milch, schön dick mite geriebenem Brot und viel Zucker bestreut. Diese liebe, alte, süße, saure Milch scheint nun auch im Rang heruntergekommen aufs Land verzogen. Vielfach wird sie von der modernen, hygienisch geschulten Welt duch ein medizinartiges Präparat aus gegorenen Milchbestandteilen ersetzt.
Ich möchte hier auch wehmütig des Bratapfels gedenken, dem die Berlinerin nachtrauert, da ihm die neuzeitlichen Heizkörper die Ofenröhren gesperrt haben.
Vergnügungsreisen im Frühjahr oder Herbst,
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an die Riviera, an die italienischen Seen oder nach Meran waren Abenteuer, Übermut. Japan oder Indien – jetzt schicktes Reiseziel – lagen für die Menschheit noch gleichsam im Monde.
Der Harz, Thüringen, die sächsische Schweiz oder Swinemünde genügten der Reiselust des feßhaften Berliners. Die Kinder blieben hübsch zu Hause. Vermögende Familien leisteten sich aber Sommerwohnungen in Schöneberg, Charlottenburg oder im Tiergarten. Auch im Tiergarten? Jawohl. Die Tiergartenstraße hatte noch einen ländlichen Vorortscharakter. Ich glaube kaum, daß Berliner dort überwinterten. Das einzige Haus aus der damaligen Zeit, das heute noch steht, ist das Humblotsche mit der Uhr, Nummer 28.
Auch wir bezogen drei Jahre hintereinander eine Sommerwohnung im Tiergarten. Das kleine Haus befand sich ungefähr da, wo heute die Regenstraße in den Tiergarten mündet. Auf dem wieten ungepflegten Terrain, das sich
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bis zum Graben ausdehnte, standen noch drei oder vier andre Sommerhäuschen. Das heißt, das eine hatte eine stattliche villenartige Fassade. Sonderbar, daß ich nach so viel Jahrzehnten den Namen der Familie, die es bewohnte, noch weiß: Prätorius. Georgine Prätorius hieß die hohe, schöne Dame des Hauses, die – nur zu selten – mit Schokoladenplätzchen sich huldvoll uns nahte.
Die Sommerwohnung hatte ihre Schattenseiten. Wir Kinder mußten – auch bei glühender Hitze – viermal täglich den weiten Weg vom Tiergarten bis zur Kochstraße machen. (Der Unterricht dauerte von 8 - 12 und von 2 - 4 Uhr.) Man war damals nicht sentimental mit den Kindern. Vielleicht waren die Strapazen auch für uns Mädchen ganz zuträglich; andre Gelegenheiten für körperliche Exerzitien boten sich uns nicht. Die Knaben schwammen, die Mädchen nicht. Die Knaben ruderten, die Mädchen nicht.
Ich war vielleicht zwölf Jahre alt, als zur
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staunenden Bewunderung Berlins und zur Entrüstung etlicher Spießbürger die erste Schlittschuchläuferin auf dem Graben erschien. (Die Bahn an der Rousseauinsel und der neue See waren für den Eislauf noch nicht aufgetan.) Die Bahnbrecherin war die Tochter eines berühmten Arztes.
Knaben und Mädchen lebten in getrennten Welten. Meine acht Brüder schlitterten auf dem zugefrorenen Rinnstein, schneeballten sich, keilten sich gräßlich untereinander, waren faul in der Schule und wuschen sich am liebsten gar nicht. Mir war dieser Teil der Schöpfung durchaus unsympathisch.
Die Mädchen, die saßen möglichst still, sittsam, machten Handarbeiten in den Freistunden, von der mühsamen Perlen– und petit-point- Stickerei bis zum ekligen Strumpfstopfen herunter.
Man ist jetzt so fabelhaft besorgt, daß die Studien – obwohl ihnen die Sports ein Gegengewicht bieten – die körperliche Tauglichkeit
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des Weibes für die spätere Mutterschaft beeinträchtigen könnten. Damals dachte niemand daran, in dem Mangel körperlicher Entwickelung eine Gefahr für diese Tauglichkeit zu fürchten.
Das Familienleben mag damals intimer gewesen sein, inniger die Zusammengehörigkeit von Mutter und Tochter. Saß man doch Abend für Abend an dem runden Familientisch – heut bevorzugt man den ovalen – die Finger fleißig rührend.
Die Welt der Frau war klein, engbegrenzt. Mütter und Töchter hatten die gleichen Intressen, die gleiche Lebensführung, die gleichen Ziele. Daher die Ähnlichkeit in ihrer geistigen Physiognomie. Im Äußern aber wurden die Altersstufen durch die Kleidung nachdrücklich betont. Das Alter wurde gewissermaßen den Frauen auf den Leib geschrieben.
Als ich heiratete, war eben erst die Sitte im Entschwinden, die die verheirateten Frauen, auch die jüngsten, zum Tragen von Hauben
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oder Häubchen verplichtete. Daher heute noch die Redensart: unter die Haube kommen.
Gegenwärtig sind die Toilettenunterschiede zwischen jungen und nicht mehr jungen Frauen nahezu verwischt – die Greifin ausgenommen, obwohl das Greisenalter immer kürzer wird, je länger das Leben der Menschen zu wenden scheint. In ihrer inneren Wesenheit aber unterscheiden sich Mütter und Töchter auffallend. Die Intressen, die Lebensführung, die Ziele der Tochter sind andre als die der noch immer nur hausfraulichen Mutter. Die Tochter trägt ein geistiges Eigenkleid.
(So Gott will, wird das hier Gesagte in dreißig Jahren keine Gültigkeit mehr haben; in absehbarer Zeit werden Mütter und Töchter sich wieder in geistig-seelischer Harmonie zusammenfinden.)
Mit schematischer Regelmäßigkeit spielte sich das Leben in den Familien ab. So heute wie gestern, so morgen wie heute. Alles schien niet-und nagelfest. Ein förmlich auswendig
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gelerntes Menschentum. Weltanschauungen, Meinungen, Lebenseinrichtungen waren fix und fertig zu beziehen. Das Naturgesezt vom Fließen aller Dinge schien aufgehoben. Ein sachtes Sickern war’s.
Die Mechanisierung der Lebensformen erstreckte sich auch auf Wohnung, Ernährung, Kleidung.
Meine Eltern waren nach damaligen Begriffen reich, heute würde ihr Einkommen für eine so unaussprechlich zahlreiche Familie – wir waren achtzehn Kinder, nur zwei starben ganz jung – kaum ausreichen.
Die Einrichtung unsrer Wohnung – vornehmer ausgedrückt: die Innendekoration unsrer Räume – entsprach den üblichen Einrichtungen aller andern gutsituierten Bürgerfamilien. Von Hygiene und Ästhetik oder gar von der Kunst im Leben des Kindes spürtest du keinen Hauch. Da gab’s ein Zimmer von rotem Plüsch und eins von grünem Plüsch – konnte auch Rips sein. Und zwei Lehnstühle und
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einige andre Sitzgelegenheiten gruppierten sich symmetrisch um den festen, runden, soliden Tisch, der von dem tüchtigen Sofa stand. Die mondaine Chaiselongue kam erst mit dem Salon auf. In meiner Jugendzeit mit weißen Gardinen von broschiertem Musselin oder Tüll vor den Fenstern. Die Stunde der stilvollen, dunkelschweren Vorhänge und Portieren hatte noch nicht geschlagen.
Unerläßlich war die gute Stube, die nur, wenn Besuch kam, benutzt und geheizt wurde.
Keine Bibelots. Keine Antiquitäten. Unbehelligt, ungeschoren blieben in den Dorfhäuschen und den alten Städten die altertümlichen Truhen und Schränke, die man heute mit gold aufwiegt.
Bescheiden waren die Leute in ihren Ansprüchen an Luft und Duft. Vorsichtig pflegte man zur Abwehr jedes Lufteindringlings jede verdächtige Ritze der Fensterrahmen mit Moos oder Stoffstückchen zu verstopfen. In weiten
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Zukunftsfernen lagen die Naturheilanstalten, die Wintersports.
Es wimmelte in den Zimmern noch nicht blumengefüllten Vasen. (Ich zählte vorhin die Blumengefäße in meinem Wohnzimmer, und siehe – es waren elf, den Blumentisch nicht mitgerechnet. Wer’s nicht glaubt, ist freundlich zum Nachzählen eingeladen.) Allenfalls verstieg man sich zu ein paar Blumentöpfen vor den Fenstern. Mitunter brachten auch ein Kanarievogel oder Goldfischchen in großen Glasbehältern einen anheimelnden Gemütston in die plüschene Nüchternheit.
Dennoch – trotz ihrer Physiognomielosigkeit bargen unsre Wohnräume intime Reize – wenigstens für uns Kinder.
Da waren die kristallenen Kronleuchter mit den zahllosen Bominelchen, die so melodisch bimmelten, wenn ein Wind ging, beinah wie Äolsharfen, und trafen sie Sonnenstrahlen, so funkelten sie auf, märchenschön, in diamantnem Feuer.
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Da war in der guten Stube die „Servante“ (längst zum alten Eisen geworfen. In Museen, als Glasvitrine, zur Aufbewahrung historischer Raritäten, sieht man noch ihresgleichen.) Ein mäßig großer viereckiger Schrank war’s; die Wände von Glas, zur einladenden Schau der Familienkostbarkeiten: Erdstücke, Taufbestecke, seltene Tassen und Gläser, Andenken, von Resen heimgebracht usw.
Und wurde ein Kind getauft – was alljährlich bei uns geschah – so entnahm die Mutter dem Reliquienschrank etliche Prachtstücke zur Benutzung und zu Ehren der festlichen Okkasion.
Nicht phantasiereicher als das Ameublement waren die Trachten. Der Charakter des Notdürftigen haftete ihnen an. Ein unermeßlicher Abstand ist zwischen den damaligen Trachten von schlichter Geschmacklosigkeit und der schwungvollen Phantastik, der künstlerischen Berauschtheit der heutigen Poiretkleider. Die Mode heischte spitz zulaufende Schneppentaillen,
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steife Schnürbrüste mit Metallstangen, lange, enge Ärmel, weite Röcke ohne jede verschönernde Zutat.
Nur in langen Zwischenräumen wechselten die Moden.
Die Eitelkeit, das Allermenschlichste jeden Erdenkindes, wäre bei dieser Kostümkärglichkeit fast zu kurz gekommen. Die kleinen Fräulein wußten sich zu helfen, verfielen auf die Schmalheit der Taille. Die Wespentaille war Trumpf. Welchen Mägdleins Leibesmitte sich mit den zehn Finger umspannen ließ, das hatte den Rekord geschlagen.
Wieviel Frauen mögen den Frevel dieser Einschnürungen mit späteren chronischen Leiden gebüßt haben.
Die heutigen Haartrachten mit ihrem phantastischen, gepufften, gekräuselten, indianerhaften Getürm (einmal hielt ich so eine Haaraufmachung für eine Pelzmütze), das oftmals aus den Mähnen längst feuerbestatteter Köpfe hergestellt wird („Coiffeur für penible Damen“
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steht auf einem Firmenschild am Kurfürstendamm), bilden einen Gegensatz zu den Frisuren von Anno dazumal: glatt über die Ohren gestrichene Scheitel, oder Frisuren a la chinoise, die Haarmassen nach hinten stramm über den Kopf gezogen, am Hinterkopf in einer festen Flechte verknotet. Ältere Damen gestatteten sich auch wohl ein abgezirkeltes, wie auf Draht gezogenes Lockenarrangement, im Volksmund Pfropfenzieher.
Der Hüte errinere ich mich nicht, sie müssen unscheinbar gewesen sein. Der vorjährigen grotesken Topfungetüme – umgekehrten Papierkörben ähnlich – und andrer pyramidaler Bedachungen wird man sich noch nach Jahrhunderten schaudernd errinern. Sollte mein Glaube an die zukünftige Größe des weiblichen Geschlechts doch ein Irrglaube sein? Geht denn das zusammen, diese freiwilligen Lastträgerinnen (etwa keine Last, die schwerbefrachteten Hüte?) und zugleich Kulturträgerinnen?
Einfach wie die Trachten war die Ernährung.
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Gut? kaum. Wußten etwa die Hausfrauen etwas von dem Nährwert der Nahrungsmittel, von ihrer chemischen Zusammensetzung oder Verdaulichkeit?
„Wenn man nur satt wird.“ Das war der Hausfrauen Prinzip. Wovon – war gleichgültig. Hätte ein Arzt meiner Mutter geraten, einem Kinde mehr Eiweißstoffe zuzuführen, sie hätte wahrscheinlich geantwortet: „Aber die Eier sind jetzt so teuer, auch selten ganz frisch.“
Die Kinder mußten essen, was die Kelle gab, ob es ihnen schmeckte oder nicht. Das war Erziehung. Längst schon zwingt man die Kinder nicht mehr herunterzuwürgen, was ihnen – vielleicht aus einem richtigen Instinkt – widersteht.
An bestimmten Tagen wiederholten sich bestimmte Gerichte. Sonntags wechselten – wie in unsrer Familie, wohl auch in den meisten bürgerlichen Küchen – Kalbs- und Rinderbraten ab, aber ein durch und durch gebratenes wackeres Rind; seine Umwertung in blutiges Roastbeef
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war noch nicht vollzogen. Mitunter unterbrach ein Hase oder ein Gans die Reihenfolge. Eine gute gebratene Gans mit recht knusperiger Haut war und ist vielleicht auch heute noch ein kulinarischer Hochgenuß des richtigen Berliners. Fasan oder Poularde hatten noch einen millionärischen Nimbus, wie ja auch der Millionär selbst (heute eine Massenerscheinung) wie ein Geschöpf aus Tausend und einer Nacht anmutete.
Montag gab’s Bouletten (von dem Suppenfleisch, das Sonntags nicht auf den Tisch kam) und Milchreis. Donnerstags Erbsen und Pökelfleisch. Sonnabends Brühkartoffeln (Bouillon sagte man nicht) oder Kartoffelklöse in der Brühe.
Ein Mittagessen ohne Suppe war nicht denkbar. Süße Suppen, Schokoladen-, Bier- oder Mehlsuppen waren an der Tagesordnung. Und wenn Wasch- oder Scheuerfrauen das Familienmenü herabdrückten, griff man ohne Scham zu einer Kesselbouillon (hier gebrauchte
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man das Wort „Bouillon“ spöttisch). Heißes Wasser, ganz wenig Butter, Zucker und Semmelscheiben, und die „Bouillon“ war fertig.
Auch eine längst verschollene Painadensuppe (aus Brotresten) brachten sparsame Hausfrauen gern auf den Tisch.
Five-o’clock Tees? Kein Gedanke. Dem Tee haftete noch etwas Exclusiv-Aristocratisches an, er konnte mit dem Kaffee nicht konkurrieren, am wenigsten mit dem urgemütlichen Nachmittagsfamilienkaffee. Der war freilich dünn, gesundheitlich dem koffeinfreien von heute ebenbürtig. Und eine trockene Semmel gab’s dazu, über die heute das kleinste Küchenmädchen, wenn man sie ihr zumutete, bedeutend die Stirn runzeln würde – in Berlin. Selbst das Wort „Semmel“ hat sich bis in die Semmelklöse zurückgezogen. Auch die Worte gehen und kommen, oft im Laufschritt.
In ästhetisch gestimmten Familien, oder wenn Gäste zum Abendessen kamen, reichte man
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wohl Tee. Im allgemeinen mißte der Mann ungern seine „Weiße“, womöglich in dem großen Tulpenglase. Der säuerliche Labetrunk mag wohl noch hier und da in Destillen oder Bureauwinkeln eine dürstige Existenz fristen.
Der höhere Berliner hat sich treulos von der Blonden zur Braunen gewandt. „Echte Biere“ nannte man damals respektvoll die jetzigen Münchener Bräus. Ihren Siegeszug ins Preußische hatten sie noch nicht angetreten. Möglicherweise mußten sie verzollt oder versteuert werden. In Berlin hatten sie Seltenheitswert.
Ich wollte ja von den Kindern reden. Nicht nur das Kinderspielzeug, auch die Kinderspiele sind dem Wechsel der Mode unterworfen. Die lieben alten Spiele: Katze und Maus, der Plumpsack geht rum, Blindekuh, Fanchonzeck, wer fürchtet sich vor dem schwarzen Mann usw., sie werden wohl noch gespielt, zumeist bei ländlichen Ausflügen. In den höheren Ständen hat sie das vornehmere Tennis verdrängt.
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Völlig aus dem Reportoire der Kinderlustbarkeiten sind die Pfänderspiele, ist der Mokierstuhl gestrichen; dem letzteren wird der Pädagoge keine Träne nachweinen. Das Wort „mokieren“ bezeichnet schon die Tendenz des Spiels. Förmlich eine Ausmunterung, den Mitschwesterchen kleine Bosheiten zu applizieren; man nannte es die Wahrheit sagen.
Die Pfänderspiele stellten einen recht derben Flirt dar, indem das Auslösen der Pfänder in der Regel durch Küsse geschah: „Ich schneide, schneide Schinken“, heiß es, „wen ich lieb hab’, werde ich winken.“ Und der Gewinkte mußte nun seine Dankbarkeit für den Vorzug mit einem Kusse quittieren. Oder: „Ich falle, falle, falle.“ „Wie tief?“ „Zehn klafter tief?“ Zehn Küsse eforderte hier die Erlösung. Oh, es gab herzige Backfischchen, die fielen zwanzig Klafter tief.
Das diese offen gegebenen, durchaus erlaubten Küsse sittliches Unheil angerichtet, wüßte ich nicht.
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Der Flirt, wenn nicht Todestrafe darauf stehen sollte, wird wohl von jeher den Jugendverkehr der Geschlechter beherrscht haben, vielleicht in meinen Jugendjahren, wo es noch keine Kameradschaft zwischen den jungen Menschen gab, mehr als heute.
Es fehlte aber auch nicht an Spielen, die den Verstand anregten. „Wie, wo und warum?“ – Porträt und Unterschrift – Spiele, die den Kindern einige Schlagfertigkeit und geistige Besonnenheit zumuteten.
Im Winter waren Lesekränzchen beliebt. Dramen mit verteilten Rollen wurden gelesen, wobei man sich begeistert die Seele aus dem Leibe schrie.
Unser Entzücken aber waren die sommerlichen Landpartien. In großen Kremsern ging’s nach Tegel, den Pichelsbergen, Charlottenburg, Treptow, wo die Mamas wahr und wahrhaftig den Kaffee selbst kochten. Aus den großen, braunen Bunzlauer Kaffeekannen duftete es viel verlockender , als aus der Kaffeemaschine
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daheim, und der gediegene, rosinenreiche Napfkuchen – natürlich auch ein mitgebrachter – gab ihm die festliche Weihe.
Zwar steht auch heute noch an verschiedenen Etablissements im Grunewald: „Mit altem Brauch wird nicht gebrochen, hier können Familien Kaffee kochen.“ Wollte aber eine Familie sich wirklich dieser atavistischen Liebhaberei hingeben, ich glaube der Wirt stände vor Erstaunen Kopf.
Sehr nett waren unter den Jugendvergnügungen auch die Familienspaziergänge im Tiergarten. Am Goldfischteich fütterte man die Goldfischchen, an der Rousseauinsel die Schwäne. Wir hatten da immer das Geschau; kamen wir doch gleich in Scharen einhergezogen, und alle gleich gekleidet, reizvoll und originell. Meine Mutter war ein Tiolettengenie, die ungeniert über die Stränge der spießrigen Mode schlug.
Das alles klingt vergnüglich, nicht wahr? Und doch – ich habe keine Freude an meinen
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persönlichen Kindheitserrinerungen. Ich war ein leidenschaftlich ungluckliches Kind, ein verkanntes, ein Kind ohne Mutterliebe. Einsam unter siebzehn Geschwistern.
Es wäre größenwahnig, wollte ich sagen: ein Schwan im Ententeich, so sage ich denn: ein Kuckucksei im fremden Nest.
Zehn von ihren achtzehn Kindern nährte die Mutter selbst. Ich war das erste ihrer Ammenkinder. Darum mochte sie mich nicht. Ich weiß es von ihr selbst. Daß ich – ein Säugling – immer nur nach der Amme, nicht nach ihr verlangte – hielt sie für frühzeitige Charaktertücke. Dazu kam, wie sich bald zeigte, der denkbar schroffste Gegensatz unsrer Naturen. Meine Mutter , rasch, resolut, aufbrausend, herrschsüchtig. Eine robuste Frau mit wunderschönen weißen Händen. Sie war der Herr im Hause. Eine erstklassige Hausfrau von stupender Leistungsfähigkeit. Ich, still, versonnen, furchtsam, schüchtern. Ich fürchtete mich vor meiner Mutter, vor ihren Gewaltsamkeiten.
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Herzhaft und mit gutem Gewissen wurde damals geprügelt. Die Kindermädchen knufften mit. Prügel und Erziehung waren beinah identisch.
Wie es im Reich noch keine Konstitution gab, so war auch in der Familie alles absolut. Absolut die Herrschaft der Eltern über ihre Kinder, der Hausfrau über die Dienstboten. Ein Nachklang noch der Zeit, in der die Kinder „Sie“ zu ihren Eltern sagten. So tat es meine Mutter noch ihrer Mutter, meiner Großmutter gegenüber. Heute wäre eher das Umgekehrte möglich, daß die Eltern ihre Kinder siezten.
Mein Vater, der gab uns nie einen Schlag. Ein stiller, ergebener Herr. Wir wußten nichts von ihm, er wußste nichts von uns. Tagsüber war er in seiner Fabrik; da sie weit hinten in der Konigstadt lag, und wir in der Nähe des Halleschen Tores wohnten, kam er mittags nicht nach Hause, erst gegen acht Uhr abends, wenn wir Kinder schon im Bett lagen. Ein Sonntagspapa nur.
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Zweifellos war er kunstlerisch begabt. Ich besitze ein selbsstgezeichnetes Porträt von ihm und die Zeichnung seiner sechzehnjährigen Braut, meiner Mutter. Erstaunliches Talent spricht daraus. Es scheint in jener Zeit die Anschauung geherrscht zu haben, daß ein Kauffmann nichts zu lernen braucht. Mit vierzehn Jahren saß mein Vater bereits im Kontor der väterlichen Fabrik.
Eine kunstlerische Anlage hatte auch meine Mutter: Musik. Wenn die robuste Frau mit den schönen Händen, einen Säugling im Arm, mit wunderherrlicher Stimme Volks- und Schlummerlieder sang, so wurde sie ganz und gar schön und lieb, und ich wäre gern der Säugling in ihrem Arm gewesen, dem sie die Lieder sang.
Das Erziehungswerk der Zukunft sollte mehr als jetzt darauf gerichtet sein, den zwei Seelen (nur zwei?) die bekanntlich in unsrer Brust wohnen, gerecht zu werden. Der einen, die einen Platz in der Ewigkeit sucht.
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Ich meine, die Kunst bringt selbst in das Leben materiell veranlagter Naturen ein ideelles Element. Wie wenn die erdwärts gekehrte Raupe sich auf ihre Schmetterlingsflügel besinnt, sie entfaltet und hin über Blumen gaukelt.
Hätte meine Mutter ihren Gesang, mein Vater seine bildnerische Begabung entwickeln können, unser Familienleben hätte sich wahrscheinlich ganz anders gestaltet. Der Welt des Geistes fern und fremd blieben beide.
Einen Vorteil verdanke ich der naiven Unwissenheit der Eltern, ihrer völligen Indifferenz allen sozialen, politischen und religiösen Fragen gegenüber: Frei von allen Voreingenommenheiten, von irgendwelchen Familientraditionen auf den erwähnten Gebieten, wuchsen wir auf. Ich brauchte später nicht Anerzogenes, nicht innere Widerstände zu überwinden, um Raum zu schaffen für mein Eigendenken.
Ob Mischrassigkeit günstig oder ungünstig auf ein Individuum oder eine Volkheit wirkt,
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darüber sind die Gelehrten noch nicht einig. Vielleicht nicht gleichgültig, daß ich drei Rassen entstamme. Mein Großvater mütterlicherseits war Franzose, meine Mutter Germanin, mein Vater semitischer Abstammung.
Gab diese Mischrassigkeit meiner Seele den heimatlosen Zug, oder war es das Lärmvolle, von Wildlingen übervölkerte Haus mit der Mutter, die mich nicht liebte?
Ich war schon ein großes Mädchen und hatte noch niemals zu meiner Mutter „Mama“ gesagt. (Mutter, Mutti oder Muttchen zu sagen war nicht üblich.) Einem sehr verständigen Kindermädchen, das mich lieb hatte, war es aufgefallen. Das gute Mädchen redete mir so lange, so eindringlich ins Gewissen, bis ich ihr versprach, die Frau, die mich nicht liebte, Mama zu nennen. Unter wildem Herzklopfen vollbrachte ich die kühne Tat. Was würde geschehen? Das Wunderbare: Mama würde mich an ihr Herz reißen und mich küssen, immerzu küssen.
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Nichts geschah, Mama hatte es niemals gemerkt, daß ich den teuren Namen nicht aussprach, und sie bemerkte es auch jetzt nicht, daß ich es zum ersten Male tat.
Als ich noch klein war, fühlte ich mich als Aschenputtel, wartete auf die Fee, die mir Kleider wie Sonne, Mond und Sterne schenken sollte. Später war ich Mignon. „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide.“ Und wie Mignon würde ich jung sterben. Wollte es. Und unter allen poetischen Todesarten wählte ich die allerpoetischste: Das gebrochene Herz.
Als Halberwachsene identifizierte ich mich mit Bettina.
Zu früh oder zu spät war ich geboren. Zu spät für die Romantikerzeit, der ich mich wahlverwandt fühle, zu früh, viel zu früh für die Zeit, in der jetzt meine Enkelinnen mein Leben leben, einer Entwickelung froh werden, die mir versagt blieb.
In die Schule ging ich sehr gern; vielleicht weil mir zu Hause nicht wohl war, oder weil
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ich immer zu den besten Schülerinnen gehörte. Zu lernen gab’s da nicht viel, zu einer korrekten Orthographie habe ich es nicht gebracht. Gemäß der Anschauung, die auch heute noch fortwirkt, daß der Zweck der weiblichen Erziehung nicht die Entwickelung der Intelligenz, sondern die des Gemüts sei, wurde uns Wissenswertes nur in den minimalsten Dosen verabreicht. Sehr viel Religion. Die Größe and Allmacht Gottes wurde, durch viele Beispiele illustriert, uns von dem Lehrer in die Feder diktiert; wir hatten sie auswendig zu lernen. Auf Herzensbildung zielten auch die Themata des deutschen Aufsatzes ab: „Gefühle beim Beginn des Frühlings, Empfindungen beim Untergang der Sonne, oder Betrachtungen in der Sylvesternacht.“ Die Pfannkuchen und den Punsch einzuflechten, wagten wir nicht. Einkehr in sich selbst, edle Vorsätze für das neue Jahr wollte der Lehrer.
Sicher bildeten solche Aufsätze eher einen Anreiz zu verlogenen, verstiegenen Phrasen, zu sinnlosem Gefasel alszu einer Gemütsvertiefung.
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Psyche des Kindes? Die Zeitströmmung hatte sie noch nicht ans Ufer der Wissenschaft geschwemmt.
Die Lehrer in den oberen Klassen waren gute, alte Herren. (Das heißt, ob sie gut waren, weiß ich nicht). Mir scheint nachträglich, daß sie in den Mädchenschulen das Gnadenbrot aßen. Untauglich geworden für höhere Knabenschulen, schob man sie zu den weiblichen Kindern ab, die bedurften ja der Geisteskultur nicht.
Ungünstige Lebensverhältnisse – mehr aber noch die Ungunst eines Charakters von hilflosester Willensschwäche – hinderten mich, die Lücken meiner Bildung später auszufüllen. Nein, nicht Lücken. Alle Felder meines Geistes blieben unbeackert. So mußte ich wohl ein Dilettant bleiben, der auf dem Instrument seiner Seele nur zu klimpern verstand. Ein geistiger Backfisch.
Trotz der elenden Schule, trotz der denkbar prosaischsten Umgebung, in der ich aufwuchs, stand es schon im elften Jahr bei mir fest, ich
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würde Dichterin werden. Daß mehr als natürliche Begabung dazu gehört, ahnte ich nicht.
Ich erinnere mich, daß damals kein Tag verging, ohne daß ich weinte. Ich war ja der Sündenbock im Hause. Alle Unarten der andern wurden mir in die Schuhe geschoben. Leugnete ich, so war ich eine durchtriebene Lügnerin. Hatte Schwester Anna Zucker genascht, ich bekam dafür bittern Kaffee. War eine Tasse zerbrochen, ich mußte aus der zerbrochenen trinken. Meine Schweigsamkeit war Dummheit, meine Abseitigkeit närrischer Trotz.
Still und schweigsam verhielt ich mich aber nur im Zusammensein mit andern. Innerlich war ich von betäubender Beredsamkeit, schmetterte oft meine Monologe in alle vier Winde.
Als künstige Dichterin brachte ich mein brechendes Herz in Verse. Ich dichtete unermeßlich schwermütig. Die Tränen ließ ich zu Bächen anschwellen, die Bäche zu Meeren, in denen meine verblutende Seele ertrank.
Allein es gab für mich auch Stunden innigster
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Beglückung. Die Stunden, in denen ich abends vor dem Einschlafen träumend fabulierte: Tausendundeine Nacht Abenteuer, die brillantesten Stellen schrieb ich mir auf den Leib. Die Träume waren mein eigentliches Leben, die Wirklichkeit eine schale, belästigende Episode. Ein Schwelgen war’s in Ruhm, Gold, Liebe – natürlich einer glühenden Liebe, die ein königlicher Prinz mir widmete, der mein ehelich Gemahl wurde. Die An- und Abschaffungen, die meine Traumphantasien ins Werk setzten, verstiegen sich ins Unermeßliche. Mit den Millionen, die mir wie Wasser durch die Finger rollten, rottete ich mit Stumpf und Stiel die Armut aus. Nicht den kleinsten Bettler ließ ich am Leben. Der Freude schönen Götterfunken blies ich für alle Armen und Elendenzur hellen Flamme auf (vergaß mich aber selber nicht dabei). O, ich griff dem lieben Gott kräftig unter die Arme.
Noch ganz andre Dinge schaffte ich ab, zum Beispiel die donnerstäglichen Erbsen mit
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Pökelfleisch, die ich haßte, und dafür schaffte ich Backobst mit Klößen an, die ich liebte, obwohl diese Hausmannskost doch einer fürstlichen Tafel eigentlich nicht ansteht. Ich schaffte die vielen Brüder ab und die Mütter korrigierte ich wesentlich.
Aus der spießbürgerlichen Wohnung, Friedrichstraße 235, nahe dem Halleschen Tor, ritt ich mit Bravour hinauf zum Parnaß. (Den hatten wir schon in der Schule gehabt.) Ich war die größte Dichterin Europas – mitunter vertauschte ich die Dichterin mit einer Sängerin. Ganze Lorbeerhaine wurden für mich geplündert. Und eines Tags fuhr ich bei meinen Eltern vor. Da es noch keine Automobile gab, behalf ich mich mit einer Hofkutsche, bespannte sie aber mir vier weißen Rossen. Und neben mir saß der Prinz. In leuchtenden Farben malte ich mir das Erstaunen und die Beschämung meiner Mutter aus. Großmütig verzieh ich ihr alles, lud sie sogar auf mein Schloß am Meer. In Ehrfurcht
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vor mir erstarben meine Geschwister. Und das Volk jubelte mir zu: „Heil, Heil unsrer Wohltäterin!“
Und ich ärgerte mich, wenn ich den Schlaf kommen fühlte, der so täppisch in meine Traumdichtungen hineinplatzte.
Wer sich an Alkohol gewöhnt hat, muß trinken, trinken, trinkt sich den Tod. Auch der Duft, der aus Träumen steigt, narkotisiert. Wer sich das Träumen angewöhnt, mag diese Rauchzustände nicht mehr entbehren.
Und ich träumte weiter, träumte, bis ich zu Jahren kam, fast könnte ich sagen zu hohen Jahren.
Die grübelnden Träumer, das find die Menschen, die nie zu Taten reifen. In ihren Gedankenschöpfungen möglicherweise Revolutionäre, Umstürzler, die kühn und frech an dem Weltenbau rütteln, in Wirklichkeit nicht das kleinste Steinchen zu bewegen die Kraft haben. Blutlose Feiglinge dem Leben gegenüber – wie ich.
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Naturgemäß änderten sich allmählich meine Traumgesichte. Der Prinz, die Millionen, die weißen Rosse und die Lorbeeren entschwanden. Es wurden Träume der Sehnsucht, die all diejenigen träumen, die ihr eigenes, gottgewolltes Leben nicht leben dürfen. Wie einer in der Fremde träumt, der die Heimat seiner Seele sucht. Zu diesem Land hin steuerte ich in meinen Wach-Träumen, hin nach der Heineschen Insel Bimini, wo mein Glück auf mich wartete. Aber mein Schiffchen war zu klein, das Meer, das durchschifft werden mußte, zu groß, der Weg zu weit. Näher sah ich sie kommen, die selige Insel – - - da – plötzlich Windstille! Was ist’s? Das Alter? Der Tod?
Als ich später, viel zu spät, wirklich anfing zu schriftstellern, da hatten meine üppigen Phantastereien die Kraft meiner schöpferischen Phantasie längst erstickt, und der Rausch der Jugend war verfolgen.
Als ich, fünfzehnjährig, aus der Schule
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kam, wurde ich im Hause zu Handarbeiten angehalten. Noch sehe ich den häßlichen Teppich vor mir, an dem ich Tag für Tag, Stunde für Stunde arbeiten mußte. Ich sehe die großen, knalligen Blumen, die nach einem Muster abgestickt wurden. Der Füllgrund war weiße Wolle. Und während ich Stich für Stich zählte, sah ich immer nach der Uhr, horchte auf die Korridorglocke, ob nicht plötzlich jemand eintreten würde, mich fortzuholen – fort, weit fort aus dieser grünen Plüschstube, aus diesem Haus in der Friedrichstraße 235, nahe dem Halleschen Tor. Irgend wohin, wo es keine wilden Brüder gab, aber zärtliche Mütter, keinen Teppich mit knalligen Blumen, aber Bücher, Berge von Büchern brauchte ich, um meinen Lesedurst zu stillen.
Und ich fing an, über mein Schicksal zu grübeln. Mußte denn das alles so sein, wie es war? Warum hatten Mütter das Recht, ihren Kindern so viel Herzeleid anzutun, warum mußte ich wie ein Sträfling immerzu mir
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widrige Arbeiten verrichten? Ich war doch wohlhabender Leute Kind! Warum mußte ich so viel weinen, wurde immer gestraft und gescholten, und tat doch nichts Böses? Warum mußte ich heimlich, als wär’s ein Verbrechen, lesen? Warum durfte ich nichts lernen? Meine Brüder wollten und mochten nichts lernen und wurden dazu gezwungen.
Nun weiß ich es längst, was ich damals unklar in grübelndem Geträum ahnend empfunden: Es ist das größte Unglück eines Menschen, in einer falschen Zeit geboren zu sein, in einer falschen Stadt, einer falschen Familie. Unzeitgemäß zu sein ist nur den Unsterblichen, den Genies gestattet. Wir andern Sterblichen aber, sind wir nicht mit unsrer Zeit verwurzelt, bedroht uns geistig seelisches Verkümmern. Wurzelloses trägt keine Blüten, trägt keine Früchte.
Aus seinen großen Schmerzen machte Heine – kleine Lieder.
Meinen Schmerzen (die eines Gefangenen,
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der von der Sonne da draußen weiß) entstürmten mein Ideen der Frauenemanzipation. Damit das Weibchen lebe, schlug man ein Menschentum ans Kreuz. Was ich je über Frauen geschrieben, es war in tiefster Seele Erlebtes. Selbsterlebte Wahrheiten find unanfechtbar.